Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Psychologie des Schwarzfahrens
Welches Charakteristikum uns zu Billettsündern macht

Un controleur des Chemins de Fer Federaux, (CFF), controle les titres de transports des pendulaires, a bord d'un train, au depart de Lausanne, direction Brig, ce lundi 15 octobre 2012 a Rivaz. Les Chemins de Fer Federaux (CFF ) presentent l'horaire pour l'annee 2013, le jeudi 8 novembre a Lausanne. (KEYSTONE/Yannick Bailly)

Die Auswertung des nationalen Schwarzfahrerregisters durch diese Redaktion zeigt: In der Schweiz reisen jeden Tag viele Menschen ohne gültiges Billett. Per Ende 2023 waren fast eine Million Menschen im Register eingetragen, weil sie ohne Fahrkarte erwischt worden waren.

Auffällig dabei ist, wie viele unverbesserliche Schwarzfahrer im öffentlichen Verkehr unterwegs sind: 40 Prozent der Gebüssten waren zum ersten Mal erwischt worden. Aber fast jeder Dritte wurde sechsmal oder mehr ohne Billett kontrolliert. Was treibt diese notorischen Billettsünder an? Und was macht einen Menschen zum Schwarzfahrer?

Wer reist ohne Billett?

Zwei Schweizer Studien deuten darauf hin, dass es vor allem jüngere Menschen sind, die ohne Billett in den Zug oder den Bus steigen. Das Medianalter der im nationalen Schwarzfahrerreigster eingetragenen Personen beträgt 28 Jahre, wie eine Auswertung durch die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zwischen April 2019 und Februar 2020 gezeigt hat. Man könnte also vermuten, dass Menschen vor allem deshalb schwarzfahren, weil ihnen das Geld für das Billett fehlt.

Gegen diese Annahme spricht jedoch ein Feldversuch der Bildungssoziologin Regula Imhof. In ihrer Dissertation an der Uni Bern fand sie vor einigen Jahren heraus, dass Menschen mit höherer Bildung mit grösserer Wahrscheinlichkeit schwarzfahren. «Schwarzfahren ist ein Delikt der Oberschicht», schlussfolgerte die Studienautorin in der NZZ. Die Motivation fürs Schwarzfahren dürfte also weniger darin liegen, ein paar Franken zu sparen. Imhof führt es vielmehr auf ein robustes Selbstbewusstsein zurück. Sprich: Wer schwarzfährt, ist von sich selbst überzeugt und traut sich zu, nicht erwischt zu werden.

Die Studie der ZHAW stellte weiter fest, dass Männer öfter und wiederholter schwarzfahren als Frauen. Reisen ohne Fahrschein sei ausserdem in der Westschweiz verbreiteter und werde als weniger verwerflich eingeschätzt als in der Deutschschweiz.

Warum fahren Menschen schwarz?

Jeder, der schon einmal ohne Billett gefahren ist – und sei es nur versehentlich –, kennt das Gefühl der Erleichterung, wenn die Kontrolleure einen nicht entdeckt haben. Kann es sein, dass einige Menschen dieses Risiko bewusst suchen? Oder machen sie bloss eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung, weil sie davon ausgehen, ohnehin nicht kontrolliert werden?

Jörg Gross ist Professor für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Zürich. Er zählt mehrere Faktoren auf, die beeinflussen, ob jemand sich getraut, im öffentlichen Verkehr zu tricksen: erstens, die Lust am Wagnis. Risikofreudige Menschen könnten eher ohne Billett in den Zug einsteigen. Zweitens, die Angst, erwischt werden. Wer sich sicher fühlt und davon ausgeht, nicht in eine Kontrolle zu geraten, verzichtet eher auf den Fahrschein.

Drittens, das Selbst- beziehungsweise Fremdbild. «Menschen unterscheiden sich darin, wie sehr sie sich als Regeln befolgend sehen und von anderen gesehen werden wollen», sagt Gross. Die Vorstellung, vor den Augen der anderen Fahrgäste erwischt zu werden, ist für die meisten unangenehm. «Wenn einem das aber nicht so wichtig ist, kann es fast schon eine reine Kosten-Nutzen-Entscheidung sein, ohne Billett zu reisen.» Viertens, der Gruppeneffekt. Gerade bei jüngeren Menschen sei nicht auszuschliessen, dass der Gruppendruck zum Schwarzfahren verleite. Fünftens, das Vertrauen in den Staat. Wer den Institutionen positiv gegenübersteht und die Kosten als fair erachtet, ist eher bereit, für das Ticket zu bezahlen.

Welche Charaktereigenschaften prädestinieren zum Schwarzfahren?

Ob jemand zum Billettsünder wird (oder sonstige Kleindelikte begeht), entscheidet sich also nicht an einer einzigen Charaktereigenschaft. Es ist vielmehr ein Zusammenspiel aus persönlicher Veranlagung, sozialen Normen, Gelegenheiten und rationalen (ökonomischen) Überlegungen.

Dennoch gibt es ein entscheidendes Charakteristikum, das Menschen in ethisch-moralischen Fragen einordnet: der Faktor Ehrlichkeit-Bescheidenheit (honesty-humility). Er ist Teil des relativ neuen sogenannten Hexaco-Modells, das Menschen anhand von sechs Persönlichkeitsmerkmalen einteilt.

«Der Faktor Ehrlichkeit-Bescheidenheit kann in Experimenten voraussagen, welche Menschen eher bereit sind, Dinge zurückgeben, die ihnen nicht gehören, Regeln verletzen oder bereit sind zu tricksen», sagt Jörg Gross. Menschen mit dieser Charaktereigenschaft gehören also eher zu jenen, die stets brav ein Billett lösen oder im Restaurant die Bedienung darauf aufmerksam machen, dass der teure Wein auf der Rechnung vergessen wurde.

Und wie entwickelt man diese «Ehrlichkeitsveranlagung»? «Wahrscheinlich ist es massgeblich beeinflusst durch soziale Normen und internalisierte Werte», sagt Gross. «Die Erziehung ist wichtig, ebenso wie die Beobachtung, wie andere sich verhalten.» Niemand will blöd dastehen, weil er oder sie die Regel verletzt.

Könnte diese soziale Prägung in der Kindheit und Jugend der Grund sein für den Befund der ZHAW, dass Männer häufiger ohne Fahrschein unterwegs sind? Gross sagt: «Es gibt tatsächlich die These, dass es bei Mädchen eher bestraft wird als bei Jungen, wenn Regeln verletzt werden.» Er verweist auf eine Studie, die gezeigt habe, dass Männer signifikant öfter Regeln brechen würden.

Welche Ausreden haben Schwarzfahrer?

Im vergangenen Jahr wurde ein interessantes Experiment einer dänischen Soziologin öffentlich: Sie stattete zwei Teams von Kontrolleuren mit Körperkameras aus und wertete die Reaktion der Fahrgäste aus, die ohne Billett erwischt wurden. Viele von ihnen versuchten, sich herauszureden oder mildernde Umstände geltend zu machen, wie die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» zitiert. So habe eine Mutter mit drei mitreisenden Kindern, von denen zwei zu alt waren, um unentgeltlich zu reisen, angegeben, es handle sich um Spielkameraden ihres Kindes, deren Alter sie nicht kenne. Andere ignorierten die Kontrolleure oder beschimpften sie.

Die Ausreden dürften sich durch die Digitalisierung und die Verbreitung der SBB-App verändert haben. Konnte man früher sein Glück versuchen mit «Automat war kaputt», «Billett auf dem Küchentisch vergessen», «Ticket vom Wind weggeweht», m¨¨üssen heute andere Strategien her. Die «Basler Zeitung» berichtete unlängst über einen neuen Typ Schwarzfahrer: den Pokerer. Er oder sie löst blitzschnell eine Fahrkarte, sobald ein Kontrolleur das Tram oder den Bus betritt. Mit einem Zeitstempel prüfen die Kontrolleure, ob das Billet rechtzeitig gelöst wurde. Andere Schlaumeier laden ein Abonnement herunter, aber bezahlen nicht, wie es bei den lokalen Basler Verkehrsbetrieben heisst.

Wie schlimm ist Reisen ohne Billett?

Schwarzfahren ist schlecht – fürs Gewissen, aber auch fürs Portemonnaie: Wiederholungstäter zahlen in der Schweiz beim dritten Mal bereits mindestens 140 Franken. Dazu kommt ein Eintrag ins nationale Schwarzfahrerregister – der jedoch nach zwei Jahren gelöscht wird, sofern man sich regelgetreu verhält.

In Deutschland ist man noch ein wenig strenger mit Schwarzfahrern: Reisen ohne gültiges Billett gilt als Straftat, die bei wiederholtem Male im Extremfall sogar ins Gefängnis führen kann. Etwa 7000 Menschen würden jedes Jahr «wegen Beförderungserschleichung» hinter Gitter kommen, schrieb vergangenes Jahr die «Süddeutsche Zeitung». Derzeit läuft in Deutschland nun aber eine politische Debatte um die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens.

Womöglich den inoffiziellen Rekord für wiederholtes Schwarzfahren hat in der Schweiz übrigens ein Jugendlicher aus dem Raum Bern erreicht. Die Jugendanwaltschaft hat Ende letztes Jahr einen 15-Jährigen zu einer Busse von 600 Franken verurteilt, weil er innerhalb von vier Monaten nicht weniger als 66-mal ohne Billett erwischt worden war, wie die «Berner Zeitung» berichtete.