Erziehung in RusslandSchulen verordnen Liebe zum Vaterland
Nationalhymne singen, Flagge hissen und patriotische Erziehung: Die russische Regierung versucht, Schüler zu indoktrinieren. Lehrer, die nicht mitziehen, müssen den Rauswurf befürchten.
Seine Schüler hatten von Anfang an Fragen zur Ukraine. «Warum haben wir das getan?», wollten sie in Moskau von ihrem Lehrer Kamran Manafly wissen. Und: Was bedeutet das, zwei neue Staaten? Was sind Donezk und Luhansk überhaupt? Was passiert jetzt mit dem Rubel? Die Fragen hörten gar nicht auf.
Kamran Manafly, 28, Geografielehrer, antwortete gern. Seinen Siebtklässlern erklärte er, was «nicht anerkannte Republiken» sind, mit den Älteren sprach er über Sanktionen. Der häufigsten Frage seiner Schüler musste er aber ausweichen: «Ist es richtig oder falsch, was wir da tun?», wollten sie wissen.
In Russland darf nur von «militärischer Spezialoperation» gesprochen. Manafly hat sich im Klassenraum mit einer Gegenfrage beholfen: «Was muss in euren Köpfen vorgehen, damit ihr eine Maschinenpistole in die Hände nehmt und Menschen töten geht? Das ist meine Antwort.» So habe er es den Schülern gesagt.
Wegen kritischer Haltung den Job verloren
Er hat sich damit schon weit vorgewagt. Das Bildungsministerium, das in Russland Aufklärungsministerium heisst, gibt Lehrern vor, wie sie über die «Spezialoperation» sprechen sollen. Längst kursieren verschiedene Broschüren im Internet, auch Musterantworten auf Schülerfragen. Sie wiederholen im Prinzip, was der Kreml behauptet: dass Kiew die Krim gewaltsam zurückerobern wollte, dass ein Atomkrieg drohte, hätte Moskau nicht reagiert, dass russische Soldaten keine zivilen Objekte angriffen. Und andere Unwahrheiten.
Seine Direktorin habe alle Lehrkräfte oft ermahnt, sagt Manafly im Videogespräch, «dass wir keine eigene Meinung haben dürfen, weil der Staat uns bezahlt». Trotzdem liess er sich bei einer Demo fotografieren, veröffentlichte das Bild auf Instagram. Er wolle kein «Spiegel der Staatspropaganda» sein, schrieb er daneben. Sofort forderte die Direktorin ihn auf, den Eintrag zu löschen. Als er sich weigerte, verlor er seinen Job.
Am Tag darauf standen Sicherheitsleute vor dem Schulgebäude, sie liessen ihn nicht mehr rein. Kamran Manafly wartete draussen auf seine Schüler, um sich zu verabschieden. Viele haben ihn umarmt, manche applaudiert, auch davon hat er Videos auf Instagram veröffentlicht. «Sie sind der Beste», hat ihm ein Schüler geschrieben. «Wir werden Sie sehr vermissen», ein anderer.
Alles dreht sich um den 2. Weltkrieg und das Militär
Russische Schulen sollen Kinder zur Vaterlandsliebe erziehen. Den Patriotismusunterricht gibt es schon lange, Schülerwettbewerbe mit militärischen Zügen, Schulbücher, die das verdrehte Geschichtsbild des Kreml lehren. Zuletzt habe die patriotische Erziehung absurde Züge angenommen, sagt Manafly. «Alle Konzerte in unserer Schule, Feiertage, Wettbewerbe, Museumsbesuche, alles drehte sich um den Grossen Vaterländischen Krieg und um das Militär.» So sei es jedenfalls bei ihnen gewesen.
In einem neuen Unterrichtsfach gehts jeden Montag um die «Spezialoperation» in der Ukraine.
Schulleiter konnten bisher häufig selbst entscheiden, wie sie Vorgaben umsetzten. Seit dem 24. Februar werden diese Freiräume enger. Selbst Kindergartenkinder stellen sich nun zum Fotoshooting in Z-Form auf. Schulkinder schreiben Briefe an Soldaten, malen Panzer auf Postkarten für den Tag des Sieges am 9. Mai.
Für das nächste Schuljahr plant der Bildungsminister bereits ein neues Ritual: Zu Wochenbeginn sollen Schüler die Nationalhymne singen und die russische Flagge hissen. Dazu kommt ein neues Unterrichtsfach mit dem Titel «Gespräch über das Wichtigste». Dort geht es dann jeden Montag um die «Spezialoperation» in der Ukraine.
«Wir machen diese Arbeit und haben sie seit Beginn der Spezialoperation intensiver gemacht», sagte Minister Sergei Krawzow am Donnerstag, «weil eine Flut von Desinformationen über Kinder hereingebrochen ist.» Bereits heute würde in Sozialkunde und Geschichte darüber gesprochen, «was wirklich passiert», sagte er, über den Zweck der «Spezialoperation». In der Kremlversion ist das die «Entnazifizierung, die Entmilitarisierung des Donbass». So soll es den Kindern erzählt werden.
Im Internet findet man mehrere Beispiele von Lehrern, denen wegen ihrer Ansichten gekündigt wurde. Doch die Mehrheit will das nicht riskieren. «Sogar die loyalsten Lehrer sind unzufrieden, weil sie nun Zeit für diese ungeplanten Stunden finden müssen», schreibt ein Lehrer aus der Gewerkschaft Utschitel, der anonym bleiben möchte, auf Anfrage. Dazu komme die «geringe Qualität» dieser «methodischen Empfehlungen», die es bisher gebe.
Beim Thema Sanktionen etwa sollen die Lehrer ihren Klassen weismachen, dass Russlands Wirtschaft vor einer neuen Blütezeit stehe – das glaubt auch kein Schüler mehr. Die Kollegen versuchten jetzt, sagt der Gewerkschafter, ihre Chefs zufriedenzustellen und gleichzeitig «vor den Kindern nicht lächerlich auszusehen».
In einem Zeichentrickfilm auf Youtube zwingt der Russe Wanja den Ukrainer Kolja zum Frieden.
Wie lächerlich manche Propagandaideen sind, zeigt ein Zeichentrickfilm auf Youtube: Es ist das Märchen von Wanja und Kolja, die beste Freunde waren. Wanja trägt ein T-Shirt in den russischen, Kolja in den ukrainischen Nationalfarben. Als Kolja in eine neue Klasse wechselt, stachelt ihn dort ein böser Junge mit Amerika-T-Shirt zur Gewalt an. Der kleine Kolja jagt daraufhin andere Kinder mit einem Stock durch die Schule. Der gute Wanja, also Russland, zerbricht schliesslich den Stock und sorgt für Frieden.
Regierung macht auch Druck auf Universitäten
Nicht nur von den Schulen fordert der Kreml Loyalität ein. Wie gross der Druck auch auf die Universitäten ist, zeigt ein offener Brief der Gewerkschaft der Hochschulrektoren: «Es ist heutzutage sehr wichtig», steht darin, «unser Land, unsere Armee, die unsere Sicherheit verteidigt, zu unterstützen, unseren Präsidenten zu unterstützen, der die vielleicht schwierigste, leidvolle, aber notwendige Entscheidung seines Lebens getroffen hat.» Unterzeichnet haben praktisch alle Rektoren Russlands.
Irina Busygina lehrt in Sankt Petersburg an der Higher School of Economics (HSE), der Brief hat sie schockiert. «Für mich ist das Unsinn, nicht nur schlecht, sondern irrwitzig, dumm, verrückt.» Deswegen möchte die Politikwissenschaftlerin öffentlich darüber sprechen, «egal, was es mich kostet», sagt sie im Videogespräch. Anders als viele Kollegen ist sie noch im Land, sitzt vor einem Bücherregal in ihrer Wohnung. «Wenn ich leise bleibe, bin ich keine Universitätsprofessorin mehr, dann bin ich niemand», sagt sie. Wer leise bleibt, ist für sie ein «Mitmacher».
«Wir dürfen uns nicht selbst betrügen, indem wir die verordnete Sprache der Behörden benutzen.»
Die Professorin leitet in Sankt Petersburg ein Forschungszentrum. Im nächsten Semester will sie in den Hörsaal zurückkehren. Ihre Themen sind Moskaus Verhältnis zur EU und internationale Beziehungen. Sie fragt: «Wie kann ich zu Russland in der globalen Politik lehren, ohne über den Krieg zu sprechen?» Den Kremlbegriff «Spezialoperation» möchte sie keinesfalls benutzen. «Wir dürfen uns nicht selbst betrügen, indem wir die verordnete Sprache der Behörden benutzen. Worte sind wichtig.»
Jemand aus der Universitätsverwaltung hat sie bereits gefragt, ob sie nicht kündigen wolle, doch freiwillig möchte Irina Busygina nicht gehen. Sie macht sich Sorgen um die Zukunft ihrer Uni: Die HSE hat eine internationale Ausrichtung, ihre Wissenschaftler sollen in internationalen Zeitschriften veröffentlichen. Wie soll das in Zukunft noch gehen?
Gemeinsam mit ihren Kollegen vom Forschungszentrum wollte sie eine Strategie entwickeln, eine Erklärung verfassen. Doch niemand hat sie unterstützt, alle wollten lieber still abwarten. «Ich verstehe nicht, auf was sie warten», sagt die Professorin. Die Regierung werde immer mehr Zugeständnisse verlangen. «Die Behörden wollen, dass wir alle Mitmacher sind.»
Wegen Haftandrohung in die USA geflüchtet
Geografielehrer Kamran Manafly hat das bereits zu spüren bekommen. Die Direktorin in Moskau rief seine Kollegen zusammen, zeigte Fotos von ihm auf einer Fortbildungsreise in die USA und beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Sie nannte ihn einen US-Agenten, einen Verräter. Als sie ihm mit Gefängnis drohte, floh Manafly aus dem Land. Er lebt nun bei Verwandten in den USA, arbeiten kann er dort nicht.
Als Kamran Manafly vor der Flucht seine Sachen aus der Schule holte, hat keiner der Kollegen ihn gegrüsst, alle haben weggeschaut. Wenn er etwas gelernt habe in Russland, sagt der Lehrer jetzt, dann «dass bei uns jeder für sich allein ist».
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