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Schuldenfalle Krankenkassenprämien
«Klingelt es an der Tür, bekomme ich heute noch Angst»

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Matthias Lobsiger (Name geändert) geht nicht gern zum Arzt. Er fürchtet die hohen Rechnungen, die er bezahlen muss. Seitdem der 25-Jährige vor sechs Jahren von zu Hause ausgezogen ist, hat er Schulden in der Höhe von 20’000 Franken angehäuft. Hauptsächlich nicht bezahlte Steuern, Rechnungen bei der Krankenkasse und offene Kreditkartenbeträge.

Dreimal hat Lobsiger innerhalb kurzer Zeit sein Kreuzband gerissen und konnte seiner Arbeit als Landschaftsgärtner nicht mehr nachgehen. «Von der Versicherung bekam ich 80 Prozent Lohn, musste aber trotzdem 100 Prozent Steuern bezahlen». Er sass tagsüber in seiner Wohnung in Basel, machte abends Party mit Freunden und wusste nichts mit sich anzufangen.

Irgendwann verlor er den Überblick. Er öffnete keine Briefe mehr aus Angst vor Mahnungen und Betreibungen und getraute sich nicht mehr, seinen Kontostand im E-Banking zu kontrollieren. Um zu sparen, hat er bei seiner Krankenkasse die höchste Franchise gewählt. Mit dem Risiko, dass er nun im Krankheitsfall mindestens die 2500 Franken plus den Selbstbehalt übernehmen muss.

Den kräftigen Anstieg der Prämien im kommenden Jahr quittiert Matthias Lobsiger mit einem Schulterzucken. Dann müsse er halt bei seinen persönlichen Ausgaben zurückstecken und hoffen, dass sein Lohn von rund 5500 Franken bis zum nächsten Zahltag reicht. Doch das ist nicht so einfach, wie es klingt. Er muss seine Schulden abbezahlen. Müsse man sich zusätzlich zehn Tage vor Monatsende noch überlegen, wie man das Essen bezahlt, dann könne man schon in Panik verfallen, meint er.

«Drei von fünf Personen, die zu uns kommen, haben Schulden bei der Krankenkasse».

Pascal Pfister, Schuldenberatung Schweiz

Ausstehende Prämien bei der Krankenkasse sowie unbezahlte Steuern gehören in der Schweiz zu den grössten Schuldenfallen, stärker noch als Konsumschulden oder Kredite. Mit ein Grund dafür ist auch, dass private Inkassofirmen bei Konsumschulden deutlich aggressiver vorgehen. Werden die Rechnungen nicht bezahlt, sind ein geleastes Auto oder ein Handyabonnement plötzlich weg. Bestehen Schulden beim Staat oder der Krankenkasse, droht meist kein unmittelbarer Wegfall von Leistungen.

«Drei von fünf Personen die zu uns in die Beratung kommen, haben Schulden bei der Krankenkasse», sagt Pascal Pfister, Geschäftsleiter der Schuldenberatung Schweiz. Dieser Anteil ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Wie stark, zeigt die länger zurückreichende Erfassung der Berner Schuldenberatung: Waren es 1995 noch rund 17 Prozent, hatten 2022 schon 57 Prozent Schulden bei ihrer Krankenkasse. Steuerschulden haben im selben Zeitraum dagegen leicht abgenommen. Pfister schätzt, dass der Trend so auch für die gesamte Schweiz gilt.

Der Anstieg ist umso bedenklicher, da Krankenkassenschulden im Gegensatz zu anderen Schulden privilegierte Forderungen sind. Sie müssen also in jedem Fall vollständig zurückbezahlt werden. Bis dann können Schuldnerinnen und Schuldner auch nicht zu einer günstigeren Kasse wechseln. Laut der Beratungsstelle wird es dadurch schwieriger, ganz schuldenfrei zu werden.

Beratungsstellen merken, dass durch die steigenden Prämien vor allem der Druck auf Personen mit tiefem Einkommen zunimmt. «Ein Budget lässt sich oft gar nicht mehr optimieren», sagt Gregor Mägerle, der die Schuldenprävention der Stadt Zürich leitet. Die Personen würden sich keinen luxuriösen Lebensstil gönnen, trotzdem gehe die Rechnung am Monatsende nicht mehr auf.

Wie viele Jugendliche oder junge Erwachsene in der Schweiz konkret verschuldet sind, lässt sich nur schätzen. 2021 lebten laut dem Bundesamt für Statistik 11,5 Prozent der Bevölkerung in einem Haushalt, in dem es mindestens eine Art von Zahlungsrückstand gab. Der Anteil der Jungen liegt noch darüber. Neben eigenen Schulden werden etwa auch jene der Eltern erfasst, da sich nicht genau zuordnen lässt, wer eine Rechnung zahlt.

Eine wichtige Rolle bei der Verschuldung der jüngeren Altersgruppe spielt der Zeitpunkt, wenn sie von zu Hause ausziehen. Mit der Lehre und dem ersten Lohn überschätzen viele ihre finanziellen Möglichkeiten. Oder ihnen fehlt schlicht und einfach das nötige Rüstzeug im Umgang mit Geld. «Nicht alle wissen, dass sie mit 18 eine eigene Steuererklärung ausfüllen müssen, auch wenn sie noch in Ausbildung sind», sagt Mägerle. Schickt dann das Steueramt eine amtliche Einschätzung, dann reagieren sie zu spät und sind mit Rechnungen konfrontiert, die sie gar nicht zahlen können. Folgt gar eine Betreibung, kann dies vor allem bei der Suche nach einer Wohnung oder einer neuen Arbeitsstelle zum Problem werden.

Erschwerend kommt bei Krankenkassenprämien noch hinzu, dass junge Erwachsene ab 18 Jahren auch für Rückstände gemahnt und betrieben werden, die ihre Eltern vorher nicht für sie bezahlt haben. Wie Antonio Garcia (Name geändert): «Es war für mich damals eine extrem perspektivlose Situation», sagt der heute 29-jährige. Als Kind kam er aus Bolivien in die Schweiz zu seiner Mutter. Sie betrieb ein eigenes Restaurant, geriet damit aber in finanzielle Schwierigkeiten. Sie habe dann aufgehört, die Miete und die Krankenkassenprämien für ihn und seine Schwester zu bezahlen.

Als er volljährig wurde, gingen die Schulden an Garcia über. Dieser besuchte damals das Gymnasium in Basel, wollte studieren. Mit den Schulden kamen die psychischen Probleme. Termine beim Betreibungsamt nahm er nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr wahr. Einmal sei sogar die Polizei bei ihm vor der Tür gestanden. Seine Schulden summierten sich auf mehr als 40'000 Franken.

Sich in dem System zurechtzufinden, sei für ihn sehr schwierig gewesen. Hilfe kam, als seine damalige Partnerin ihm ein zinsloses Darlehen gewährte, das er nun abzahlen kann. Trotzdem war die gesamte Schuldensanierung ein aufwendiger Prozess. «Ich musste sämtliche Gläubiger anrufen und mit ihnen über die Rückzahlung meiner Schulden verhandeln», sagt er.

Diese Altlasten fallen künftig weg

Wie viele junge Erwachsene Schulden bei der Krankenkasse von ihren Eltern erben, ist schwierig zu sagen. Der Krankenkassenverband Curafutura schreibt auf Anfrage dazu, dass seine Mitglieder auf solche Fälle Rücksicht nähmen: «Dies, indem sie beispielsweise das Mahnwesen stoppen oder die Möglichkeit gewähren, in Raten zu bezahlen.»

Nun wird der entsprechende Artikel im Krankenversicherungsgesetz geändert. Junge Erwachsene sollen nicht mehr für Prämienausstände belangt werden können, die in der Zeit ihrer Minderjährigkeit entstanden sind. Das Bundesamt für Gesundheit will beim Bundesrat beantragen, die entsprechenden Bestimmungen auf den 1. Januar 2024 in Kraft zu setzen.

Diese Änderung wird auch von den Krankenkassen begrüsst. «Es ist wichtig und richtig, dass junge Erwachsene nicht mit einer Altlast, für die sie nichts können, ins Erwachsenenleben starten müssen», schreibt Santésuisse. Auch Curafutura bezeichnet die neue Regelung als «sinnvoll». Sie komme rechtzeitig auf den Prämienschub 2024.

Antonio Garcia arbeitet heute als Sozialarbeiter. Vollständig losgelassen hat ihn seine Vergangenheit aber noch nicht: «Klingelt es an der Tür, bekomme ich immer noch Angst», sagt er. Es könnte eine neue Betreibung sein.