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Meinung

Kolumne «Heute vor»
Schamlose Fussgänger und die Sünde des Vergessens

Nicht selten verhalten sich Fussgängerinnen und Fussgänger fahrlässig. 1942 war das nicht anders. 
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Regeln sind von unbestrittener Wichtigkeit im Strassenverkehr. Sie sind vor allem dort wichtig, wo Autos, Velos und Fussgänger aufeinandertreffen. Mit umso mehr Nachdruck versucht die Beratungsstelle für Unfallverhütung im Juli 1942 dies in einer Mitteilung in der rechtsufrigen «Zürichsee-Zeitung» den Lesenden einzubläuen. So würden Velofahrende vermehrt einfache Verkehrsregeln missachten. Besonders scheine vergessen zu werden, dass rechts gefahren werden müsse und höchstens zwei Velos nebeneinander fahren dürften.

«Aber nicht nur die Radfahrer sind Sünder», fährt der Verfasser der Mitteilung fort. Fussgängerinnen und Fussgänger würden auch dort, wo es Gehwege habe, «in unrechtmässiger Weise» die Strassen beanspruchen. Dass man eine Strasse rechtwinklig überqueren solle, nicht schräg, scheine kaum mehr bekannt zu sein. «Gegen diese bedenkliche Verlotterung der Verkehrsdisziplin hilft nichts als ein strenges Einschreiten der Polizeiorgane», lautet die Schlussfolgerung. «Wie leicht ist es, die wenigen Vorschriften zu beachten!», schreibt der Autor damals.

Während Vergesslichkeit in Bezug auf Verkehrsregeln verheerend sein kann, ist sie doch ein gewöhnliches Vorkommnis im Alltag. Ein Redaktor des linksufrigen «Allgemeinen Anzeigers vom Zürichsee» warnt vor 80 Jahren aber davor, seinen Mitmenschen gegenüber vergesslich zu sein. Zweifellos gebe es Dinge, welche man vergessen könne, welche man vergessen dürfe, ja vielleicht sogar solche, welche man vergessen müsse. Wem aber selbst eine Vergesslichkeit «angetan» worden sei, der habe wohl gemerkt, «dass diese Art des Vergessens mehr als eine Unart, mehr als eine Aufmerksamkeit, dass sie ein Laster ist, eine schlimme Sünde». Er hält fest: «Einem Mitmenschen eine Enttäuschung zu bereiten, wenn er ein Recht darauf hatte, nicht enttäuscht zu werden, ist Grausamkeit, ist Schlechtigkeit. Das wollen wir doch nie vergessen!»

Genauso solle man sich selbst gegenüber nicht vergesslich sein. Wie rasch würden gute Vorsätze der Vergesslichkeit zum Opfer fallen. Wie oft würden wir uns selbst enttäuschen, indem wir in guter Absicht getroffene Entscheidungen, dies oder jenes zu unterlassen, allzu bald wieder vergässen. «Und wir lähmen unsere Kraft und unsern Willen zum Guten, wir schalten unser Gewissen immer mehr aus und lassen die Dinge gehen, wie sie gehen wollen», glaubt der Verfasser.

Auf diese Weise würden wir uns unseres eigenen Menschentums berauben. «Denn Menschsein heisst: über den Dingen stehen, die Dinge beeinflussen, die Dinge lenken, sodass sie uns und andern nützen.» Vergesslichkeit beraube uns aber der Gewalt über die Dinge. Es lässt sich also streiten, ob das Vergessen einfacher Verkehrsregeln bloss eine riskante Selbstgefährdung darstellt oder ob man dabei sogar seine eigene Menschlichkeit verleugnet.