Kolumne «Miniatur des Alltags»Sag mir, was du nicht mehr liest
Ebenso wie die heimische Bibliothek verraten auch Bücher, die man am Strassenrand ausgesetzt findet, viel über ihre (ehemaligen) Besitzer.

Um an Homeofficetagen doch noch an die frische Luft zu kommen, mache ich jeweils über Mittag einen Spaziergang durchs Quartier. Meine Streifzüge folgen keiner fixen Route, sondern werden von Wetter, Lust und Laune bestimmt. Unabhängig davon, welchen Weg ich einschlage, fast auf jedem meiner mittäglichen Ausflüge treffe ich früher oder später auf das gleiche Phänomen: Bücher, die auf Mauern oder zuweilen auch auf waagrecht gestutzten Hecken «zum Mitnehmen» abgelegt sind.
Eigentlich müsste ich einen grossen Bogen um solche Auslagen machen. Schliesslich ist mein konstant zu hoher Buchbestand einer der Hauptgründe dafür, dass meine Wohnung aus allen Nähten platzt. Glücklicherweise ist die Versuchung, eines der ausgesetzten Druckwerke mitzunehmen, meist herzlich klein. Trotzdem besteht eine seltsam voyeuristische Anziehungskraft. Schliesslich geben die Buchtitel so einiges über die vormaligen Besitzer und ihre abgelegten Interessen preis.
Kürzlich stiess ich auf eine ganz zauberhafte Kombination: verschiedene Ratgeber über vegane, glutenfreie Ernährung und wie Mann sich einen Waschbrettbauch antrainiert, dazu zwei Whiskeyführer und ein Buch über Rucksackreisen.
Fast automatisch entsteht in der Fantasie ein überspitztes Bild des ehemaligen Buchbesitzers: Veganismus, Glutenfreies und Sport hat er aufgegeben, ebenso das Rucksackreisen – gegessen wird jetzt Fleisch und Pasta, fürs Reisen nimmt er den Rollkoffer – viel bequemer. Und in sechs Wochen schafft es eh keiner zum Waschbrettbauch. Das hatte er der Freundin bestimmt schon vorhergesagt, als sie ihm das Buch schenkte. Als Kompromiss hat er dem Whiskey abgeschworen, Bier ist ja auch billiger. Dadurch rückt der Waschbrettbauch zwar in noch weitere Ferne. Aber was solls, immerhin macht das Essen jetzt wieder Spass.
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