Putins Rede an die Nation«Russlands Reaktion wird schnell und hart sein»
Unter dem Eindruck wachsender Spannungen mit dem Westen warnt Russlands Präsident vor dem Überschreiten einer «roten Linie». Und er verteilt erste Geschenke im Hinblick auf die Parlamentswahlen.
Es gab viele Gründe, Wladimir Putins Rede an die Nation mit Spannung zu erwarten. Vergangenes Jahr hatte der Präsident bei seiner Ansprache schliesslich eine Bombe platzen lassen: Er kündigte damals an, die Verfassung zu ändern; am selben Tag trat die Regierung zurück. Russland hat sich seither verändert. Und Putin dürfte nun bis 2036 Präsident bleiben.
Was würde dieses Jahr passieren, fünf Monate vor der Duma-Wahl? Auch Putins 17. Rede an die Nation wurde anders als die vorherigen. Als der Präsident im dunkelblauen Anzug auf die Bühne trat, sass weniger Publikum mit mehr Abstand vor ihm als sonst.
Regierungsmitglieder, Gouverneure und andere Gäste mussten gleich drei negative Corona-Tests vorlegen, um in die «Manege» gelassen zu werden, eine Ausstellungshalle vor den Mauern des Kreml. Ausserdem waren am Mittwochabend vor derselben Halle Proteste für den inhaftierten Alexei Nawalny angekündigt. (Lesen Sie dazu den Artikel «EDA fordert sofortige Freilassung von Nawalny».)
Wer Russlands Sicherheitsinteressen bedrohe, werde es bereuen, «wie er seit langem nichts bereut hat», sagte Putin.
Der Präsident hebt sich Überraschungen gerne bis zum Schluss auf. Am Ende, sagte Putin zu Beginn, werde er noch kurz über die Aussenpolitik sprechen. Was würde es sein? Der Truppenaufmarsch nahe der ukrainischen Grenze, die diplomatische Krise mit Tschechien, die ungeklärte Lage in Weissrussland, die US-Sanktionen, die weltweite Sorge um Nawalny? Es gäbe genug Konflikte, die Putin eskalieren lassen könnte.
Er beschränkte sich auf generelle Drohungen: Es sei eine Art Sport geworden, Russland so laut wie möglich schlechtzumachen. «Wir dagegen verhalten uns sehr zurückhaltend»: Putin sagte dies ohne Ironie. Die anderen aber umzingelten Russland heulend wie die Hyänen den Tiger in Rudyard Kiplings «Dschungelbuch».
Er selbst wolle keine Brücken abbrechen, sagte Putin. Aber wenn jemand «unsere guten Absichten als Schwäche wahrnimmt und selbst vorhat, Brücken zu sprengen», werde Russlands Antwort «asymmetrisch, schnell und hart» ausfallen. Putin legte nach: Wer Russlands Sicherheitsinteressen bedrohe, werde es bereuen, «wie er seit langem nichts bereut hat». Dann zählte der Präsident neue Waffensysteme auf, wie oft in seinen Reden.
Kein Wort zu der Truppenverlegung, keines zu Nawalny oder den Vorwürfen aus Prag, der russische Geheimdienst habe vor sechs Jahren ein tschechisches Munitionslager in die Luft gesprengt. Einzig auf Weissrussland ging Putin ein. Dort hält sich Alexander Lukaschenko nur mit Putins Hilfe an der Macht. Dieser wiederholte nun, was der russische Geheimdienst und Lukaschenko bereits behauptet hatten: Man habe den weissrussischen Machthaber ermorden und einen Staatsstreich organisieren wollen.
Lukaschenko beschuldigte indirekt die USA, Putin dagegen blieb vage. «Selbst solche offensichtlichen Aktionen finden keine Verurteilung beim sogenannten kollektiven Westen», sagte er. Belege für den angeblichen Umsturzplan nannte Putin nicht.
Der Teil der Rede war auch bemerkenswert, weil Putin die Vorgänge in Weissrussland mit den Protesten in der Ukraine 2014 verglich. Damals flüchtete der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch aus dem Land. Kurz darauf annektierte Putin die ukrainische Halbinsel Krim. Putin und Lukaschenko wollen sich an diesem Donnerstag in Moskau treffen. Lukaschenko hatte vor einigen Tagen erklärt, er habe eine wichtige Entscheidung getroffen.
Um Aussenpolitik ging es nur in den letzten Minuten von Putins Rede. Die meiste Zeit sprach er über Sozialleistungen, Zukunftsprojekte, Infrastruktur, Umweltschutz. Gerne kritisiert er bei den Ansprachen seine Minister und Gouverneure für alles, was nicht oder langsam vorangeht.
Die Pandemie-Lage schönreden
Dieses Jahr gab sich Putin milde, dankte Ärzten, Lehrern, Studenten, Wissenschaftlern, Unternehmern und sogar den Politikern dafür, wie gut sie die Pandemie gemeistert hätten. Seine Strategie war offenbar, die Lage schönzureden. Tatsächlich war die Lage in vielen Spitälern katastrophal, die Übersterblichkeit im internationalen Vergleich hoch, die wirtschaftlichen Folgen für viele Russen verheerend.
Doch im Herbst sind Parlamentswahlen, und Putin verteilte erste Geschenke, versprach Geld für Ferienlager, Schulbusse, Ambulanzen, alleinerziehende Eltern und vieles mehr. Er setzte ehrgeizige Ziele, beispielsweise soll die durchschnittliche Lebenserwartung auf 78 Jahre steigen, die Treibhausgasimmissionen in 30 Jahren geringer sein als die der Europäischen Union.
Während Putin von Russlands blühender Zukunft sprach, wurden im Fernen Osten die ersten Menschen festgenommen. Das Team von Nawalny hatte kurzfristig in mehr als 100 Städten zum Protest aufgerufen. Die Mitstreiter des Kremlkritikers sorgen sich um dessen Leben. «Ein Arzt für Nawalny», war einer der Protestrufe in Chabarowsk. Auch in Irkutsk, Jekaterinburg und Nowosibirsk gingen Hunderte Menschen auf die Strasse.
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