Ein seltener EinblickRussischer Soldat erzählt vom Krieg und von seiner Gefangenschaft
Wenig dringt aus der russischen Armee nach aussen: Dem «Guardian» erzählt ein 21-Jähriger seine Geschichte.
Was passiert an der Front im Krieg? Und wie steht es wirklich um die Moral der russischen Soldaten? Vieles erfährt man aus der Ukraine, in den sozialen Medien tauchen Tausende Bilder und Videos des Kampfs auf. Aber dass Soldaten über ihre Einsätze oder ihre Befindlichkeit mit Medien sprechen, das ist seltener der Fall. Im britischen «Guardian» spricht Anton (sein Name wurde geändert), ein 21-jähriger russischer Soldat. Er war für 45 Tage in ukrainischer Gefangenschaft und erzählt jetzt von seinen Erlebnissen im russischen Militär und wie er im ukrainischen Gefängnis behandelt wurde. Bestätigt werden seine Erzählungen durch Familienmitglieder des Soldaten, jedoch konnte der «Guardian» nicht alle Details seiner Geschichte überprüfen.
Der junge Mann schloss letzten Dezember die Berufsschule ab und unterschrieb kurz danach einen Vertrag für den Militärdienst, eine Entscheidung, die er heute bereut. Wenige Monate später stand er auf dem Schlachtfeld und kämpfte gegen die Ukraine. Er «hätte alles tun sollen», um den Armeedienst zu verhindern, erzählt er dem «Guardian».
Anton, wie der «Guardian» ihn nennt, will, dass sein richtiger Name nicht öffentlich wird. Er stammt aus einer abgelegenen Stadt in Sibirien. Seine Einheit wurde, kurz nachdem er den Vertrag für den Militärdienst unterschrieben hatte, auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim verlegt. Ihm soll gesagt worden sein, dass er an einem einwöchigen Ausbildungskurs teilnehme.
«Ich wurde völlig unvorbereitet in die Ukraine geschickt»
Während der Woche auf der Krim begannen die ersten Soldaten, sich Sorgen zu machen, dass sie bald in den Krieg geschickt würden. Für Anton und viele andere russische Streitkräfte war dies Ende letzten Jahres noch eine «absurde Vorstellung». «Viele der jungen Leute konnten sich nicht vorstellen, dass wir in den Krieg ziehen würden. Sie haben uns im allerletzten Moment davon erzählt, in der Nacht vor der Invasion», erklärt er dem «Guardian». Der 21-Jährige fühlt sich von den russischen Behörden unfair behandelt. «Ich wurde völlig unvorbereitet in die Ukraine geschickt.»
Die Einheit von Anton wurde am 25. Februar, einen Tag nach der russischen Invasion, in das Innere des Landes beordert. Mit einem gepanzerten Fahrzeug seien sie in die Aussenbezirke von Mikolajiw gefahren worden.
Dort wurde er am 2. März, zusammen mit fünf weiteren Soldaten, von ukrainischen Streitkräften festgenommen. Während der Festnahme soll er von ukrainischen Kugeln getroffen worden sein, dabei habe er sich einen Knochen in der Hand gebrochen.
«Sie drohten damit, uns verhungern zu lassen»
Anton soll mit einem Sack über dem Kopf von ukrainischen Streitkräften in eine Gefängniszelle gebracht worden sein, wo genau sich die Zelle befindet, weiss er immer noch nicht. Das Leben in Gefangenschaft war von Angst geprägt. «Du zitterst beim kleinsten Geräusch. Jeden Tag hoffst du, dass es nicht dein letzter sein wird und du nicht getötet wirst», erzählt der Russe. Er sei zwar nicht körperlich angegriffen, jedoch durch die ukrainischen Soldaten seelisch gequält worden. «Uns wurde ständig gesagt, dass Russland am Ende sei, dass wir zum unteren Rand der Gesellschaft gehörten. Sie drohten damit, uns verhungern zu lassen.»
Die grösste Herausforderung für die gefangenen Soldaten sei jedoch die Langeweile gewesen. «Wenn wir Glück hatten, bekamen wir zufällig etwas zu lesen. Manchmal liessen sie uns ukrainische Propaganda im Fernsehen schauen.» Auf die Vorwürfe habe die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, Irina Wereschtschuk, die für die Verhandlungen zum Gefangenenaustausch zuständig ist, nicht direkt reagiert, schreibt der «Guardian».
2500 Franken Entschädigung
Nach seiner Festnahme verbrachte er 45 Tage in ukrainischer Gefangenschaft. Mitte April wurde er anlässlich eines Gefangenenaustauschs freigelassen. Seine Freiheit erlangte der 21-Jährige in der ukrainischen Stadt Melitopol wieder. Dort soll er laut eigener Aussage Teil eines Eins-zu-eins-Austauschs gewesen sein. Mit ihm wurden noch 17 andere russische Soldaten ausgetauscht.
Als er zurück in Russland war, wurde er auch gleich vom Sicherheitsdienst intensiv zu seiner Zeit als Gefangener verhört. «Sie wollten wissen, ob sie mir noch vertrauen können. Es war ein Standardverfahren», sagte er. Wie ihn die Zeit in Gefangenschaft wirklich mitgenommen hat, merkte er erst Tage nach seiner Entlassung aus einem russischen Krankenhaus. Während der Zeit im Gefängnis habe er seine Emotionen unterdrückt. Er habe versucht nicht an sein Leben zu denken. «Aber jetzt habe ich schreckliche Träume, ich kann kaum schlafen. Ich habe stark zugenommen», erklärt er.
Als Entschädigung für seine Verletzungen soll er von den russischen Behörden umgerechnet rund 2500 Franken erhalten haben. Dass er als Kriegsgefangener 45 Tage in Haft sass, soll laut russischem Militärgesetz nicht entschädigt werden. Sobald Anton fit ist, soll er seinen Dienst wieder aufnehmen. Doch nach seinen Erfahrungen in der Ukraine will er das Militär wieder verlassen. «Ich will nur zurück nach Hause, Mann, das wars. Ich will nur nach Hause.»
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