Herr Ronja Fankhauser Du bist ein Junge, oder?
Unsere Autorin wird manchmal als Mann gelesen. Was dann passiert – und was das über tradierte Rollenbilder aussagt.
Hey Mama,
manchmal – wenn ich mich auf eine bestimmte Art kleide, auf eine bestimmte Art spreche und gehe – werde ich als Mann gelesen. Am Telefon verabschiedet sich eine Sekretärin mit «Danke, Herr Fankhauser, auf Wiederhören», an einem Marktstand warnt mich die Verkäuferin, dass das T-Shirt, das ich mir anschaue, für Frauen sei, auf dem Spielplatz fragt mich ein Kind: Du bist ein Junge, oder?
Wenn die Leute denken, ich sei ein Typ, ist es, als wäre ich plötzlich Teil eines geheimen Clubs. Plötzlich stehe ich, wenn auch nur für einen Augenblick, an der Spitze der Nahrungskette. Ich versuche dann mitzuspielen, ich mache meine Stimme tief, stelle mich breitbeiniger hin. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich auffliege – der Club der Männlichkeit lebt von Codes und Regeln, die ich nur zum Teil verstehe. Ein Fehltritt, und du bist raus. Es ist ein seltsames Konstrukt, wie aus Glas, kalt und hart, aber fragil. Die kleinsten Dinge der Welt können es zerschmettern: eine Farbe, eine Träne, ein Ohrring, ein lackierter Fingernagel.
Schon als Kind hielten Fremde mich ab und zu für einen Jungen, meine Haare waren kurz, ich hatte kein Interesse an den Sachen, die man für Mädchen vorsah, rannte stattdessen mit meinem Bruder durch den Wald. Du, Mama, hast mich machen lassen, das war kein Problem. Heute frage ich mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn nicht ich mich für Legos, sondern mein Bruder sich für Barbies interessiert hätte. Wie hättest du reagiert? Wäre das genauso einfach gewesen?
Feministische und queere Bewegungen bringen alte Rollenbilder ins Wanken, die Vormachtstellung des Mannes wird infrage gestellt. Diese Veränderungen werden manchmal als Angriff auf traditionelle Männlichkeit verstanden – und vielleicht sind sie das auch. Wenn sich Mannsein nicht mehr durch Dominanz und Herrschaft definieren kann, was bleibt dann noch?
Es scheint, dass in der Verunsicherung immer mehr junge, männlich sozialisierte Menschen in rechtskonservative Bewegungen abrutschen. Das Leben, das offen misogyne Influencer wie Andrew Tate ihren Followern versprechen, sieht für viele von ihnen verführerisch aus: glänzende Autos, massgeschneiderte Anzüge, Champagner im Privatjet, im Hintergrund eine Gruppe leicht bekleideter Frauen, sexy, still und unterwürfig. Auch du kannst ein Alphamale sein, wenn du nur hart genug arbeitest, all deine Zweifel und Weichheiten zubetonierst, wenn du das wirst, was sowieso alle von dir erwarten: ein Raubtier, ein Unterdrücker, ein Patriarch.
Halten Menschen mich für einen Mann, dann behandeln sie mich mit mehr Respekt – aber auch mit mehr Distanz. Männlichkeit kann eine isolierende Erfahrung sein. Rigide, binäre Geschlechterrollen schaden nicht nur Frauen, sie schränken alle Menschen ein. Ich frage mich: Kann es eine neue, kritische Art von Männlichkeit geben? Und wenn ja, was müssen wir dafür tun?
Bis bald,
Ronja
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