Psychische GesundheitPlaudern über Borderline und bipolare Störungen
Zwei Berner Studentinnen sprechen in ihrem Podcast über psychische Erkrankungen – und geizen dabei nicht mit Details.
«Gina, lachst du immer?», fragt Ricarda Eijer, im Hintergrund läuft das Lied «Die immer lacht» von Kerstin Ott. «Nein, überhaupt nicht, mir gehts auch recht oft schlecht», antwortet Gina Ketterer. «Möchtest du darüber reden?» «Mit dir immer gerne.»
Das Intro sagt eigentlich alles über den Podcast «Irrsinnig» aus. Zwei Freundinnen plaudern zusammen, ungezwungen und offen, aufgenommen wird das Ganze in der WG, manchmal warnen sie, dass im Hintergrund eine Katze miauen oder eine Mitbewohnerin poltern könnte. Im Kontrast zu dieser Lockerheit steht ihr Hauptthema: psychische Gesundheit.
In fast jeder Folge begrüssen die Studentinnen Ricarda Eijer und Gina Ketterer Gäste, die verschiedenste Diagnosen haben: Borderline, ADHS, bipolare Störung, Magersucht, Angststörung oder Depressionen. Und sie reden so frei darüber, dass jede Folge einen eigenen Sog entwickelt.
«Ich brauche Hilfe»
Wie bei der jungen Frau, die über die schweren psychischen Krisen spricht, die sie seit dem Jugendalter durchgemacht hat. Bereits in der Oberstufe sei sie oft traurig gewesen, erzählt sie, verletzte sich auch, dachte aber lange, das sei normal: Sie kannte keine psychischen Diagnosen, habe in der Familie kaum über Gefühle gesprochen.
Erst als eine Bekannte von ihr stationär in eine Klinik kam und sie mit dieser über ihren Zustand redete, begriff sie, dass es ihr ähnlich ging. Was danach folgt, ist ein rührendes Beispiel, wie das Umfeld auf eine Erkrankung gut reagieren kann. Ein Mental-Health-Märchen, wie Gina Ketterer kommentiert.
Die junge Frau ging zur Mutter und sagte: «Mami, ich brauche Hilfe.» Diese begriff den Ernst der Lage sofort, arrangierte am gleichen Tag einen Termin bei einer Psychologin. Die Eltern realisierten, dass sie zu wenig über den Zustand ihrer Tochter wussten, und informierten sich zusammen mit ihr.
«Ich war so benebelt von den Medis, dass ich ganz komische Sachen gekauft habe.»
Später, als die Tochter akut suizidal wurde, rief die Therapeutin den Vater notfallmässig im Büro an, zu Hause packte die Mutter einen Koffer, dann fuhr die Familie los, in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik. Auf dem Weg hielt die Mutter kurz am Kiosk an, damit sich die Tochter verschiedene Hefte holen konnte. «Ich war aber so benebelt von den Medis, dass ich ganz komische Sachen gekauft habe», erinnert sie sich mit einem Lachen. «Modehefte zum Beispiel.»
Diese Anekdote ist typisch für den Umgang, den Ricarda Eijer und Gina Ketterer mit ihren Gästen pflegen. Die Geschichten sind schwer, oft emotional, und dazwischen immer wieder leicht. Etwa dann, als die beiden mit der jungen Frau über ihre Erfahrungen in der Klinik sprechen.
«Meine erste Frage war, was man dort anzieht», erzählt diese. «Ich hatte im Vorfeld keine Ahnung – ich hab mir vorgestellt, dass man dort ein langes Spitalhemdli tragen muss.» Eijer und Ketterer lachen. «Natürlich immer ein Hemdli», sagt die eine. «Oder eine Zwangsjacke», die andere. Zum Schluss das Fazit der jungen Frau: «Ich habe gemerkt, es gibt schon Leute, die nice gestylt sind in der Psychiatrie.»
Die grosse Sprachlosigkeit
Sensibilisierungsarbeit durch offene Gespräche – mit ihrem Podcast wollen Gina Ketterer und Ricarda Eijer Berührungspunkte schaffen mit Menschen, die eine psychische Leidensgeschichte haben, und so Ängste in der Bevölkerung abbauen. «Nach wie vor haben viele Menschen Mühe, die richtigen Worte zu finden, um über psychische Erkrankungen zu reden», sagt Ricarda Eijer. «Ich beobachte oft eine grosse Sprachlosigkeit.»
Das erlebe Eijer auch bei Jüngeren, wobei das Stigma bei der Altersgruppe ihrer Eltern deutlich grösser sei. «Wir haben schon als Kinder die Berührungsängste gespürt», sagt Gina Ketterer. Diese Hemmungen hätten viele ihrer Generation geprägt, eigene emotionale Krisen hätten sie zunächst allein ausgetragen. Erste Hilfe suchten sie bei Google statt bei Fachpersonen oder ihren Eltern. «Nun wollen wir diese Muster nicht mehr an die nächste Generation weitergeben, sondern brechen.»
Auch im Podcast finden sich immer wieder Beispiele, wie Menschen ihre Krankheit in der Öffentlichkeit verstecken oder Einzelheiten verschweigen. So berichtet etwa jemand von der speziellen Erfahrung, zum ersten Mal Medikamente wie Antidepressiva in der Apotheke zu holen und die Bestellung zu flüstern, damit ja niemand etwas hört.
Besonders tabuisiert, glauben beide, seien Borderline-Störungen, bipolare Störungen, Psychosen oder Schizophrenie. «Das macht aber keinen Sinn», sagt Ketterer. «Wieso ist selbstverletzendes Verhalten für viele noch so stigmatisiert, aber Essstörungen gehören zu den Teeniesünden? Hungern ist auch selbstverletzend – gilt aber eher als salonfähig.»
Apéro in Biel
Weder Gina Ketterer noch Ricarda Eijer sind Therapeutinnen – Erstere studiert Kunstgeschichte, Zweitere Medizin. Kennen gelernt haben sich die zwei über eine Freundin, die sie quasi verkuppelt hat. Beide haben ihr unabhängig voneinander erzählt, dass sie gerne einen Podcast zum Thema psychische Gesundheit machen wollten.
«Am ersten Abend gingen wir zusammen in Biel ‹aperölen›, da war sofort klar, dass das funktioniert», sagt Eijer. «Waren wir nicht an der Aare?» hakt Ketterer nach. Eijer lacht, zuckt mit den Schultern. «Das kann auch gut sein. Aber egal, wo – es hat einfach gestimmt.»
Angst vor Türen
Die Episoden von «Irrsinnig» sind oft eine Stunde lang – teilweise könnten sie gestrafft werden, lassen so aber auch Raum für Details aus dem Alltag, die tief blicken lassen. Etwa bei der jungen Frau aus dem Mental-Health-Märchen, die berichtet, dass sie wegen ihrer generalisierten Angststörung nicht fähig sei, allein ein fremdes Gebäude zu betreten. Jemand müsse sie beim ersten Mal jeweils begleiten – sie müsse zuerst zuschauen können, wie die Tür auf- und zugeht. Schiebetüren hingegen, «das geht voll».
Raum erhalten die Menschen auch, um zu erzählen, wie sie mit den Krankheiten umgehen – was mit der gleichen Diagnose ganz unterschiedlich sein kann. Während Medikamente etwa eine Erzählende aus ihrem psychischen Tief holen konnten, nahm eine andere damit zehn Kilo zu, merkte aber sonst nicht viel.
Auch über Nebenwirkungen sprechen sie: Starkes Schwitzen in der Nacht beispielsweise, «ich bin am Morgen jeweils patschnass». Oder über das Gefühl, in Watte gepackt zu sein, benebelt, wie ein Zombie.
Laber-Podcasts als Genre haben Erfolg, Podcasts zu psychischer Gesundheit wie der erfolgsverwöhnte «Beziehungskosmos» auch. Die Reichweite von «Irrsinnig» ist noch am Wachsen – 300 bis 400 Personen hören im Schnitt eine Folge. Bisher, sagen beide, hätten sie nur positive Erfahrungen damit gemacht, sich zu öffnen – auch zu ihren eigenen Geschichten. «Aber etwas seltsam ist es schon, wenn dich jemand um halb zwei Uhr morgens im Ausgang deswegen anspricht», sagt Ricarda Eijer.
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