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Es brodelt im Westjordanland
Protestwellen nach Tod eines Regimekritikers

Der bekannte Abbas-Kritiker ist tot: Demonstranten mit einem Bild des verstorbenen Nizar Banat in Ramallah.
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«Nizar Banat war ein einfacher Mann, ein Handwerker mit gutem Herzen», sagt Mohannad Karajeh. «Er hat seine Familie geliebt und seine vier Kinder – und er war sehr mutig.» In den vergangenen zehn Jahren hat der Anwalt Karajeh seinen Klienten Banat, der im palästinensischen Westjordanland als Kritiker des Präsidenten Mahmoud Abbas bekannt war, immer wieder vor Gericht vertreten.

Doch nun kann er nichts mehr anderes tun, als Banats Familie mit juristischem Rat zu unterstützen. Denn der mutige Kritiker ist tot. Gestorben unmittelbar nach seiner Festnahme. Mutmasslich erschlagen von einem Trupp der palästinensischen Sicherheitskräfte.

Dieser Tod hat Karajeh, der in Ramallah die Organisation Anwälte für Gerechtigkeit vertritt, sehr aufgewühlt. «Zwei Tage vorher haben wir noch telefoniert, da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass Banat Angst hat», sagt er. Vor allem aber hat dieser Vorfall im Westjordanland eine Welle von Demonstrationen ausgelöst. «Die stärkste, die es hier je gab», sagt Karajeh.

Vergleiche mit Jamal Khashoggi

Auf seinem Schreibtisch türmt sich nun die Arbeit, denn wenn im Westjordanland Demonstranten und Sicherheitskräfte aufeinanderprallen, gibt es viel zu tun für Menschenrechtler. Von brutaler Gewalt gegen Demonstranten berichtet der Anwalt und von ungefähr hundert Festnahmen seit dem Tod Banats.

Oppositionelle waren darunter, Journalisten – und auch er selbst. Im Gerichtgebäude hatten ihn die Polizisten abgeholt, nach drei Stunden auf der Wache durfte er wieder gehen.

Die palästinensische Führung ist nervös, denn der Tod Banats wird von manchen mit dem Mord am saudischen Regimekritiker Jamal Khashoggi verglichen. Andere sprechen mit Blick auf die Proteste schon von einem «palästinensischen Frühling», bei dem mit zehn Jahren Verspätung der arabische Aufruhr gegen die verkrusteten Autoritäten nun auch in Ramallah angekommen sei.

Tatsächlich sind die Demonstranten mutig wie selten zuvor: «Abbas, geh», steht auf ihren Transparenten. Der Präsident hat rapide an Rückhalt verloren. Einer Umfrage zufolge sind nur noch 14 Prozent der Palästinenser mit seiner seit 2005 andauernden Herrschaft einverstanden.

Sein Volk ist zunehmend unzufrieden mit ihm: Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas.

Doch es deutet wenig darauf hin, dass der 85-Jährige, der jüngst erst wieder die für diesen Sommer geplanten Wahlen abgesagt hat, auch nur einen Gedanken an den Rückzug verschwendet. Viel eher wird erwartet, dass er umso mehr mit harter Hand regiert, um seine Macht und die Pfründe seiner Gefolgschaft zu sichern.

Wer eine Antwort auf die Frage sucht, wohin das palästinensische Westjordanland gerade schlittert, der muss zunächst zurückgehen zu jenem 24. Juni, als nachts die Sicherheitskräfte in Nizar Banats Haus in Hebron eindrangen, um ihn festzunehmen. Der 43-Jährige hatte die herrschende Palästinensische Autonomiebehörde (PA) oft schon herausgefordert mit Vorwürfen wegen Korruption und Nepotismus. Nun aber war er noch weiter gegangen und hatte die Europäer aufgefordert, aufgrund der Misswirtschaft ihre Finanzhilfe für die PA einzustellen.

Autopsie stellte viele Schlagverletzungen fest

Nur eine Stunde nach dem Zugriff war Banat tot. Die Autopsie ergab Schlagverletzungen an Kopf, Nacken, Brust, Armen und Beinen. Der palästinensische Justizminister musste schnell zugeben, dass Banat «keines natürlichen Todes» gestorben war. Für den Anwalt Karajeh aber ist klar, dass den Kritikern des Regimes mit dem Tod Banats auch eine Warnung erteilt wurde. «Jetzt wissen alle, dass sie nicht nur vor Gericht gestellt, sondern auch getötet werden können.» Deshalb seien viele schon vorsichtiger und ängstlicher geworden.

Die Demonstranten, die ausser in Ramallah auch in andern Städten des Westjordanlands auf die Strasse gingen, haben sich zwar nicht abschrecken lassen. Aber Karajeh beklagt, dass sich keine grösseren Gruppierungen hinter die Protestbewegung gestellt haben. «Wir brauchen die Unterstützung der Parteien.»

Dazu jedoch wird es kaum kommen. «Getragen werden die Demonstrationen allein von der Zivilgesellschaft, und die ist unorganisiert und führungslos», erklärt Khalil Shikaki, Direktor des palästinensischen Meinungsforschungsinstituts PSR. «Ein palästinensischer Frühling ist das also nicht, denn das würde Bürgerkrieg bedeuten, und das will niemand.»

Shikaki führt seit vielen Jahren Buch über den Niedergang der Popularität des Präsidenten. Der zuletzt von ihm ermittelte Wert von nur noch 14 Prozent Zustimmung sei ein «Tiefpunkt», sagt er. Aber eine Bedrohung für die Macht von Abbas sieht Shikaki darin nicht, denn die massgeblichen Kräfte seiner Fatah-Partei und der Sicherheitsapparat stünden immer noch hinter ihm. «Autoritäre Führer brauchen keine öffentliche Unterstützung», erklärt er. «Abbas hat immer noch alles, was er braucht, und kann machen, was er will.»

Immerhin ein Warnruf aus Washington

Gestützt wird Abbas überdies durch die internationale Gemeinschaft. Die Europäer überweisen zuverlässig ihre Finanzhilfe, und auch US-Präsident Joe Biden hat jüngst die von seinem Vorgänger Donald Trump eingestellten Zahlungen an die Autonomiebehörde wieder aufgenommen.

Shikaki würde sich zwar wünschen, «dass die internationale Gemeinschaft als Gegenleistung verlangt, dass die Autonomiebehörde positive Veränderungen unterstützt». Doch er weiss auch, dass Abbas im Westen als Garant von Stabilität und als Bollwerk gegen die als Terrorgruppe geführte islamistische Hamas gesehen wird.

Die Proteste in Ramallah dauern seit Wochen an: Sicherheitskräfte und Demonstranten geraten bei den Kundgebungen immer wieder aneinander.

Immerhin, einen Warnruf aus Washington hat es gegeben nach dem Tod von Nizar Banat. Das US-Aussenministerium zeigte sich in einer öffentlichen Erklärung «zutiefst verstört» und äusserte «ernste Bedenken wegen der Bedrohung der freien Meinungsäusserung und der Verfolgung von zivilgesellschaftlichen Aktivisten und Organisationen durch die Palästinensische Autonomiebehörde».

Dass so etwas Wirkung hat, merkt man im Gespräch mit Oberst Talal Dweikat. Er ist Sprecher der palästinensischen Sicherheitskräfte, ein Foto in seinem Büro zeigt ihn in jüngeren Jahren zusammen mit Abbas. «Wir kennen uns seit mehr als 25 Jahren», sagt er. Auf Männer wie Dweikat hat sich der Präsident immer schon verlassen können. Doch auch der Oberst räumt mit Blick auf den Fall Banat ein: «Das war ein grosser Fehler.»

Demonstranten werden keine Ruhe geben

Er verweist auf eine Kommission, die nun eingesetzt wurde zur Aufklärung des Todesfalls. 14 unmittelbar Beteiligte seien bereits in Haft. Doch wenn es um mögliche Hintermänner geht, blockt er ab: «Kein Verantwortlicher in Palästina würde eine solche Tötung anordnen.»

Banats Familie gibt sich damit nicht zufrieden. Sie spricht von einer «politischen Hinrichtung» und warnt vor Vertuschung. Und auch die Demonstranten wollen keine Ruhe geben. Am nächsten Montag haben sie wieder zum Protest aufgerufen in Ramallah. Es ist der 40. Tag nach Banats Tod, an dem sich nach muslimischer Tradition die Trauernden versammeln. «Ich verstehe ja die Wut der Familie», sagt Oberst Dweikat. «Aber diese Demonstranten wollen nur Gräben errichten zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Gesellschaft.»