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Barrierefreiheit an der Uni Zürich
Studierende drehen dem Rektor während seiner Rede den Rücken zu – aus Protest

Protestaktion an der UZH: Studierende mit Behinderung wehren sich gegen den Rektor
15.03.2024
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)
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Es ist Freitagmorgen. In der Aula der Universität Zürich begrüsst Rektor Michael Schaepman die Anwesenden zu einer Podiumsdiskussion. Es geht um das neue, bisher grösste Projekt für Barrierefreiheit, «UZH Accessible».

Plötzlich macht sich Unruhe im Publikum breit. Rund 40 der ungefähr 100 Besucherinnen und Besucher, viele mit einer sichtbaren Behinderung, stehen auf, drehen dem Rektor den Rücken zu und heben Schilder hoch. «Inklusion ist keine Option, sondern ein Recht» ist auf einem zu lesen. Der Rektor scheint überrascht, seine Stimme stockt. Dennoch führt er seine Begrüssungsrede fort, sagt, dass ihm das Thema der Barrierefreiheit sehr nahe liege.

Nach Schaepmans Begrüssung ergreift die Studentin Seraina Eisele, die zu den Protestierenden gehört, das Wort. «Herr Rektor, wir bitten Sie erneut darum, mit behinderten Studierenden in den Dialog zu treten. Es braucht einen engen Austausch mit Betroffenen.» Applaus im Publikum. Der Rektor antwortet nicht.

Die Protestaktion der betroffenen Studierenden sei ihre «letzte Möglichkeit, gehört zu werden», sagt Eisele nach der Veranstaltung. Als Mitglied der Kommission «Studium und Behinderung» des Vereins der Studierenden der Universität Zürich (VSUZH) und studentische Vertreterin im Projekt «UZH Accessible» ist sie gut über die aktuelle Lage informiert. Seit Monaten herrscht ein Konflikt zwischen Universitätsleitung und Studierenden mit Behinderung. Das Studium sei alles «andere als barrierefrei». Hauptauslöser: die sogenannten Nachteilsausgleiche (NTA).

Nachteilsausgleiche erfüllen ihren Zweck nicht

NTA sind von der Uni bewilligte, individuelle Anpassungen der Studiums- und Prüfungsbedingungen. So ist es Studierenden mit ADHS beispielsweise erlaubt, mehr Prüfungszeit in Anspruch zu nehmen. Auch Podcasts können Teil eines NTA sein, wenn zum Beispiel Vorlesungen mit Dialyseterminen kollidieren. Gemäss der Website der Uni Zürich sind Nachteilsausgleiche «keineswegs als Prüfungserleichterungen» zu verstehen. Sie sollen gewährleisten, dass behinderte Studierende «sich auf ihr Studium konzentrieren und die Prüfungen mit derselben Aussicht auf Erfolg absolvieren können wie die nicht behinderten Mitstudierenden».

Die NTA sind in der Theorie ein integraler Bestandteil des barrierefreien Studiums. Doch die Realität sieht oft anders aus: Die «Zürcher Studierendenzeitung» berichtete im letzten Mai, dass Studierende mit Behinderung bis zu zwei Monate auf ihren Ausgleich warten mussten. Die zuständige Fachstelle begründete die Verzögerung mit Krankheitsfällen und einem Ressourcenmangel. Zeitgleich wurden in jenem Semester in einigen Fakultäten die während der Pandemie vorhandenen Livestreams abgebaut.

Damals berichtete die Ethnologiestudentin Chiara Bono, die mit einem stark ausgeprägten ADHS diagnostiziert wurde, was das für sie bedeutete: «Ich musste mich verbindlich für meine Prüfungen anmelden, bevor ich wusste, ob mir der Nachteilsausgleich zugesprochen wird.» Das sei für sie besonders belastend gewesen, da sie nicht gewusst habe, ob sie Vorlesungsfolien und Podcasts erhalten würde, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten.

Damit einhergehend wurde eine weitere Schwäche des Konzepts deutlich: Die Fristen der NTA sind nicht auf die Modulbuchungs- und Prüfungsanmeldefristen abgestimmt. So können sich Studierende bei Erhalt des NTA-Entscheids teilweise nicht mehr von Prüfungen und Modulen abmelden. Bei Verspätungen, so wie im Fall von Chiara Bono, verstreicht so in vielen Fällen die Hälfte des Semesters.

Rektor wird stark kritisiert

Rektor Michael Schaepman nahm im September in einem Interview mit der «Zürcher Studierendenzeitung» zu den verspäteten NTA Stellung. Diese seien organisatorisch aufwendig. Zudem werde die Uni «für die breite Masse finanziert, und nicht für das Individuum». Auch müsse man aufpassen, dass man Studierende mit Behinderung nicht bevorzuge: «Wir dürfen auch keinen Vorteilsausgleich sprechen», sagte er.

Die Aussagen führten bei Zürcher Behindertenverbänden zu grosser Empörung. Die Behindertenkonferenz des Kantons Zürich (BKZ) reagierte mit einem öffentlichen Schreiben. Auch der VSUZH wandte sich mit einem offenen Brief an den Rektor. Nachteilsausgleiche seien «kein Pluspunkt oder ein ‹Nice-to-have›, sondern eine gesetzliche Pflicht», und die Uni müsse diese gemäss Behindertengleichstellungsgesetz zur Verfügung stellen. Weil die Unileitung schwieg, verlieh der Verein seinen Forderungen im Januar mit einem zweiten Schreiben Nachdruck.

Auf Anfrage dieser Redaktion sagt Rektor Michael Schaepman nun, dass sich die UZH bereits vor besagtem Interview mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Man sei während des ganzen Prozesses in Kontakt mit dem VSUZH gestanden und würde dies auch in Zukunft so handhaben.

Für Vizerektorin sind Verspätungen verträglich

Vizerektorin Gabriele Siegert betont, dass die Universität sich mit dem Projekt «UZH Accessible» für Anliegen der Studierenden mit Behinderung einsetze. In drei Teilprojekten sollen räumliche, virtuelle und kulturelle Barrieren an der Uni identifiziert und wenn möglich aufgehoben werden. Das dritte Teilprojekt widmet sich den NTA.

«Im Frühjahrssemester 2023 ist es lediglich bei 10 Prozent der eingereichten Anträge an der Philosophischen Fakultät zu Verspätungen gekommen», sagt Siegert. 90 Prozent dieser Anträge seien innert der Frist oder knapp darüber bearbeitet worden. Das sei «einigermassen verträglich», wenn man bedenke, dass sich die Anzahl der eingereichten NTA seit 2019 verdreifacht habe. Zudem seien in jenem Semester alle 127 fristgerecht eingereichten Anträge für einen NTA genehmigt worden. Zahlen dazu, wie viele Menschen mit Behinderung an der Uni Zürich studieren, gibt es laut Siegert nicht.

Punkto Barrierefreiheit ist die ETH weiter als die Uni Zürich. Mit dem Begriff «Design for All» wurden die Räumlichkeiten an der ETH so konzipiert, dass sie für alle Studierenden zugänglich sind. Auch sind Podcasts flächendeckend verfügbar und die NTA nur einmal pro Studienstufe einzureichen. Das, so Siegert, liege aber daran, dass die Organisation der Lehre an der ETH zentralisierter sei. Die Organisation und Durchführung der Lehre über Fakultäten und Institute an der UZH sei um einiges heterogener.

Physische Barrierefreiheit ist prioritär

Auch an der von Protesten begleiteten Podiumsdiskussion hat Gabriele Siegert gesprochen. Im ersten Teilprojekt von «UZH Accessible», welches räumliche Einschränkungen prüft, würden Personen mit «motorischen und sensorischen Behinderungen» prioritär behandelt, sagt sie. Viele Gebäude auf dem Campus sind bisher wegen des Denkmalschutzes nicht barrierefrei zugänglich gemacht worden.

Eine Teilnehmerin des Podiums war Luana Schena. Die Politologiestudentin hat eine starke Sehbehinderung. Sie sagt, am Unistandort Irchel gebe es keinerlei Braille-Beschriftungen. Viele Vorlesungsmaterialien seien oft mit Grafiken ohne Bildbeschreibung aufbereitet, die Lernplattform Olat sei mit ihrer Texterkennungssoftware nur schwierig zu bedienen. «Ich weiss nicht, wie ich mein Studium bewältigen würde, wenn ich nicht noch zwei Prozent Sehrest auf einem Auge hätte», sagt sie.

Martina Schweizer von der Behindertenkonferenz Zürich, ebenfalls unter den Anwesenden, sagt an der Podiumsdiskussion, dass der Denkmalschutz gesetzlich auf der gleichen Ebene wie die Hindernisfreiheit stehe. Auf den Denkmalschutz zu verweisen, wenn Forderungen nach Zugänglichkeit für Studierende mit Behinderung gestellt würden, sei deshalb kein abschliessendes Argument, sondern wohl eher eine «willkommene Ausrede», so Schweizer.

Auch Roland Studer, Präsident des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands (SBV) findet an der Podiumsdiskussion klare Worte: Als Rektor sei Schaepman mitverantwortlich, dass die UN-Behindertenrechtskonvention, dem die Universität untersteht, eingehalten wird. Diese Konvention sei kein «netter Hinweis», sondern Pflicht. Für den Rektor habe er ein Geschenk mitgebracht: Er hält einen ausgedruckten QR-Code in die Höhe, durch den man zum Konventionstext gelangt, welcher online frei zugänglich ist.

Nutzen von Podcasts wird geprüft

Im letzten Teil der Diskussion ging es um Podcasts. Deren Nutzen wird im Rahmen des Projekts «UZH Accessible» geprüft. Gemäss Vizerektorin Gabriele Siegert scheitert eine flächendeckende Einführung von Podcasts an den Räumlichkeiten; nicht alle seien für die Aufnahme von Vorlesungen eingerichtet.

Zudem sei die UZH eine Präsenzuniversität. Präsenz sei auch wichtig, um die Anliegen der behinderten Studierenden zu verankern. «Wie wollen wir jemals die Sensibilisierung der Universitätsangehörigen erreichen, wenn alle Studierenden mit einer Beeinträchtigung zu Hause bleiben?», fragt Siegert. Dagegen wirft Luana Schena ein, dass Podcasts nicht nur Studierenden mit Behinderung entgegenkämen, sondern auch denjenigen, die Betreuungsaufgaben hätten oder arbeiten müssten, um sich das Studium zu finanzieren.

Betroffene sind nicht zuversichtlich

Trotz Versprechen, Protestaktion und dem Austausch mit dem Rektor befürchtet Seraina Eisele, dass die Anliegen behinderter Studierender nicht auf Gehör stossen. Denn das dritte Teilprojekt, in dem der Nachteilsausgleich sowie die Podcasts geprüft würden, habe noch keine Projektverantwortliche und der Dialog mit Betroffenen sei bis anhin nicht gesucht worden.

Der Rektor zeigt sich in einer Stellungnahme zuversichtlicher: Im Nachgang zum Interview, in der Vorbereitung der Veranstaltung und durch den Protest habe er erkannt, dass die Uni Zürich bisher nicht genügend konsequent auf die Bedürfnisse und Rechte der Betroffenen eingegangen sei. In diesem Sinne sei die Frustration der Betroffenen für ihn «verständlich und nachvollziehbar». Auch wurden die Personalressourcen im Jahr 2024 für den Nachteilsausgleich deutlich aufgestockt und eine Vereinfachung des Verfahrens in die Wege geleitet.