Putschvorwürfe in TunesienPräsident hat Armeeführung an seiner Seite
Kais Saied ist Verfassungsrechtler – und setzt sich über die Verfassung hinweg.
Kais Saied ist Jurist, genau genommen: Verfassungsrechtler. Der 63-jährige Präsident Tunesiens unterrichtete als Professor öffentliches Recht an der Universität Sousse und der Fakultät für Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaften der Universität Tunis-Carthage. Er gehörte dem Expertenkomitee an, das im Jahr 2014 die geltende Verfassung erarbeitete – die einzige in einem arabischen Staat, die sich als demokratisch bezeichnen lässt.
Saied kennt also die rechtlichen Grundlagen, auf die er sich berief, als er in der Nacht zum Montag verkündete, er habe Premierminister Hichem Mechichi abgesetzt und werde selbst an der Seite eines noch zu benennenden Nachfolgers die Regierungsgeschäfte führen. Artikel 80 der Verfassung gibt dem Präsidenten das Recht, im Falle «unmittelbarer Gefahr für die Institutionen des Staates oder die Sicherheit des Landes» jede ihm erforderlich scheinende Massnahme zu ergreifen, um das normale Funktionieren des Staats wiederherzustellen.
«Wie kann ein Putsch auf dem Gesetz beruhen?», fragte Saied denn auch treuherzig an seine Kritiker gerichtet. Die drei grössten Parteien im Parlament werfen ihm einen «Staatsstreich gegen die Verfassung» vor. Sie wähnen die Demokratie in Gefahr, die das Volk errungen hat nach dem Tyrannensturz von 2011 und einer schwierigen Übergangszeit, in der das nordafrikanische Land zeitweise an den Rande eines Bürgerkriegs geriet. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Eine junge Demokratie steht am Abgrund».)
Spitzname «Robocop»
Allerdings hätte Saied dazu den geschassten Premier ebenso konsultieren müssen wie den Sprecher des Parlaments, Rached al-Ghannouchi. Dieser ist sein mächtigster politischer Gegner, Vorsitzender der gemässigt islamistischen Ennahda-Partei, die im zersplitterten Parlament die stärkste Fraktion stellt. Der Weg zum Verfassungsgericht, der den Abgeordneten offensteht gegen Notstandsdekrete des Staatschefs und Oberbefehlshabers der Armee, ist offensichtlich nichts wert. Auch in diesem Punkt ist Saied sicher klar: Seit 2014 sind dessen Richter im Streit der politischen Lager nicht benannt worden.
Saied hatte 2019 ohne eine vorherige politische Karriere oder Verbindung mit Parteien in der Stichwahl um das Präsidentenamt mit 72,71 Prozent der Stimmen überraschend den Unternehmer Nabil Karoui besiegt. Er gewann alle Wahlkreise und holte bei den Wählern unter 25 Jahren 90 Prozent der Stimmen.
Ihm fehlte es zwar an Charisma. Sein steifes Auftreten und seine Vorliebe für das formale Hocharabisch, das in den Ohren vieler Wählerinnen und Wähler abgehoben klingt, brachten ihm den Spitznamen «Robocop» ein. Doch mit seinem ohne grossen Aufwand geführten Wahlkampf, bei dem er in billigen Hotels übernachtete und das Gespräch mit den Leuten suchte, überzeugte er viele Menschen, die das politische System für korrupt und nicht reformierbar halten. Seine sozialkonservativen, teils drastischen Positionen – etwa zur Homosexualität –, traten dagegen in den Hintergrund.
Verfassungsreform nötig
Auf welche Macht er sich stützt, liess der mit einer Richterin verheiratete Vater von zwei Töchtern und einem Sohn in der Nacht erkennen: Während seiner Fernsehansprache sass die Armeeführung an seiner Seite. Später nahm er ein Bad in der Menge seiner jubelnden Anhänger auf der Avenue Habib Bourguiba. Schon seinen Wahlsieg hatte er mit einer «neuen Revolution» verglichen. Nun stellte er sich wieder in eine Linie mit den Protesten des Arabischen Frühlings, dem Aufbegehren gegen korrupte Politiker.
Saied macht keinen Hehl daraus, dass er eine Reform der Verfassung für nötig hält, die viel Macht in die Hände des Präsidenten legt und die Rechte des Parlaments beschneidet. Das haben die beiden Premierminister unter seiner Ägide zu spüren bekommen und Saied den Vorwurf eingebracht, er tendiere zum Autoritären.
Zweifellos hat er Tunesiens Demokratie in die tiefste Krise ihres Bestehens geführt. Ob daraus etwas Gutes erwächst, muss sich noch zeigen.
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