Griechenland vor den WahlenPolizeigewalt, Abhörskandale, Pushbacks
Der griechische Rechtsstaat steht unter massivem Druck. Manche Kritiker warnen, die Grundrechte seien bedroht. Herrschen bald Zustände wie in Ungarn oder Polen?
Insgesamt neunmal hat die Staatsanwältin unterschrieben: neun Genehmigungen für den nationalen Geheimdienst, die Telefone von Georgios Kyrtsos für jeweils zwei Monate abzuhören. Die Begründung: nationale Sicherheit.
Der Mann, der also mutmasslich über 18 Monate eine Gefahr für den griechischen Staat darstellte, ist Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Zu der Zeit gehörte er noch der konservativen Nea Dimokratia an, der Partei, die in Athen regiert. Allerdings hatte er öffentlich den Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis und die Arbeit seiner Regierung kritisiert.
Der Konflikt eskalierte, als Kyrtsos dem Premierminister eine «Orbanisierung» des Landes vorwarf. Ein Vergleich mit Ungarn unter Viktor Orban und dessen erklärtem Ideal einer illiberalen Demokratie? Das ging dem griechischen Regierungschef, der als moderner, liberaler Reformer angetreten war, zu weit. Er liess Kyrtsos im Februar 2022 aus der Partei ausschliessen.
Regierungschef will von nichts gewusst haben
Ein Vierteljahr später veröffentlichte die Organisation Reporter ohne Grenzen ihre jährliche Weltrangliste der Medienfreiheit. Griechenland war darin gegenüber dem Vorjahr um 38 Plätze abgestürzt auf Rang 108 von 180 – kein anderer EU-Mitgliedsstaat liegt niedriger.
Kyrtsos, der inzwischen die konservative europäische Parteienfamilie Europäische Volkspartei (EVP) verlassen und sich der liberalen Renew-Europe-Gruppe angeschlossen hatte, sah sich bestätigt. Kurz darauf, im Juli 2022, wurde bekannt, dass auch ein anderer griechischer Europaparlamentarier abgehört worden war: Nikos Androulakis, späterer Vorsitzender der sozialdemokratischen Pasok.
Dessen Gespräche waren nicht nur auf herkömmlichem Weg abgefangen worden. Zusätzlich hatte jemand versucht, sein Smartphone mit einer neuartigen Spionagesoftware zu infizieren. Die Affäre ging als «Griechenlands Watergate» in die politischen Debatten ein. Medien veröffentlichten immer neue Details über mutmassliche Abhöropfer, darunter mehrere Minister und der Armeechef.
Regierungschef Mitsotakis erklärte mehrmals öffentlich, er habe von nichts gewusst. Er entliess seinen Büroleiter – ein Neffe von ihm – und den Geheimdienstchef. Doch die Opposition wollte sich damit nicht zufriedengeben: Schliesslich hatte Mitsotakis kurz nach seinem Amtsantritt 2019 den Geheimdienst seiner direkten Kontrolle unterstellt.
Ein Ausschuss des Europaparlaments kritisiert eine «Kultur der Straflosigkeit» in Griechenland.
Europaparlamentarier Kyrtsos wollte zudem wissen, ob all das stimmte, was ihm Informanten aus Athen zutrugen: nämlich, dass auch seine Telefongespräche abgehört worden seien. Er wandte sich an die zuständige Behörde für Kommunikationssicherheit und Datenschutz. Diese schickte eine Delegation zum Telefonanbieter Cosmote, um in den dortigen Akten nach Hinweisen auf eine Überwachung zu suchen. Der griechische Generalstaatsanwalt aber untersagte umgehend die Ermittlungen, drohte, wenn die Beamten weitermachten, könnte dies für sie «unter bestimmten Bedingungen sogar zu einer vorübergehenden Freiheitsstrafe führen».
Spätestens an diesem Punkt drängt sich die Frage auf: Wie unabhängig ist die Justiz, wie bedroht ist die Rechtsstaatlichkeit in Griechenland? Hat der Abgeordnete Kyrtsos recht mit seinen Warnungen vor einer Orbanisierung?
Solchen Fragen geht die niederländische Europaabgeordnete Sophie In’t Veld nach. Zuletzt war sie vom 6. bis zum 8. März in Athen unterwegs, als Delegationsleiterin des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europaparlaments. Wie sie danach in einer Erklärung feststellte, hatte sich niemand aus der Regierung zu einem Gespräch mit dem Ausschuss bereit erklärt: nicht der Premier, kein anderer Minister, kein Vertreter der Polizei oder des obersten Gerichts.
Nach der Recherche erklärte In’t Veld, es gebe «sehr ernste Bedrohungen der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte» in Griechenland. Die Gewaltenteilung stehe unter «starkem Druck», die Arbeit unabhängiger Behörden und freier Medien werde «ausgehöhlt», die Justiz sei «extrem langsam und ineffektiv», was zu einer «Kultur der Straflosigkeit» führe.
Neben den Abhörvorwürfen nennt die Delegation als Beispiel etwa den Fall des vor zwei Jahren ermordeten Journalisten Giorgos Karaivaz. Bei den Ermittlungen dazu gebe es bis heute «keine sichtbaren Fortschritte». Zudem sei der Umgang griechischer Behörden mit Migranten «höchst verstörend»: Es gibt Berichte über systematische Pushbacks, Gewalt, willkürliche Verhaftungen. Die Beschränkungen der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen und Journalisten, die darüber berichten, müssten «unverzüglich aufgehoben» werden.
Auch das US-Aussenministerium zeigt sich in seinem jährlichen Menschenrechtsbericht besorgt über manche Entwicklungen in Griechenland. So gebe es «glaubwürdige Berichte» über «grausame, unmenschliche oder herabwürdigende Behandlung oder Bestrafung von Gefängnisinsassen und von Migranten und Asylsuchenden durch Strafverfolgungsbehörden».
Höhere Hürden für legale Abhörung
Gut möglich, dass sich US-Behörden künftig auch intensiver mit der griechischen Abhöraffäre beschäftigen. Wie durch einen Bericht der «New York Times» bekannt wurde, ist zeitweise auch eine US-Staatsbürgerin ins Visier des griechischen Geheimdienstes geraten: Artemis Seaford, Managerin des Facebook-Mutterkonzerns Meta. Sie soll während ihrer Arbeit in Griechenland 2021 und 2022 nicht nur mit Billigung einer Staatsanwältin auf klassischem Wege abgehört worden sein. Ihr Smartphone sei zudem mit derselben Spionagesoftware namens Predator attackiert worden wie das des Oppositionspolitikers Androulakis.
Ein Regierungssprecher in Athen erklärte dazu: «Die griechischen Behörden und Sicherheitsdienste haben zu keinem Zeitpunkt die Predator-Überwachungssoftware erworben oder eingesetzt.» Zudem verwies er auf ein im Dezember 2022 erlassenes Gesetz, das den Verkauf, Gebrauch und Besitz von Schadsoftware verbietet.
Auch höhere Hürden für formal legale Abhörungen sieht es vor. Wenn jedoch Bürger wissen wollen, ob und weshalb sie abgehört wurden, darf die Transparenzbehörde ADAE nun erst nach Ablauf einer Frist von drei Jahren Auskunft geben. Und nur dann, wenn ein dreiköpfiges Gremium zustimmt, in dem der ADAE-Chef, ein Staatsanwalt und ein Geheimdienstvertreter sitzen.
Alles, was der Europaparlamentarier Kyrtsos bislang weiss über seine Überwachung, hat er deshalb aus griechischen Medien erfahren, die sich wiederum auf Behördeninsider berufen. Er hat jetzt Klage erhoben gegen drei Personen in Polizei, Geheimdienst und Justiz – wegen «Bildung einer kriminellen Vereinigung». Während er das am Telefon schildert, lacht er bitter: «Man muss sich hohe Ziele setzen.» Sollte das Verfahren zu keinem Ergebnis führen, will er vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.
Ja, Griechenland habe deutliche Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit, sagt Nikos Alivizatos, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Athen und Mitglied in der Venedig-Kommission des Europarats. Polizeigewalt, Abhören, Pushbacks von Migranten: Da sei Griechenland «in einem schlechten Zustand». Zudem arbeite die Justiz oft viel zu langsam und ineffektiv.
«Es gibt keinen systematischen Abbau der Unabhängigkeit der Justiz.»
Dafür sieht er allerdings nicht allein die Politik in der Verantwortung: «Unsere Generation von Juristen hat darin versagt, einen angemessenen Patriotismus in Bezug auf die Berufsausübung zu entwickeln.» Schon Aufforderungen, Verfahren schneller zu bearbeiten, empfänden Richter als Einmischung in ihre Unabhängigkeit: «Das ist ein strukturelles Problem innerhalb unserer Justiz.»
Vergleiche mit Ungarn oder Polen hält Alivizatos dagegen für populistisch und überzogen: «Es gibt hier keinen systematischen Abbau der Unabhängigkeit der Justiz», sagt er. «Und Ungarns Ministerpräsident Orban erklärt öffentlich, dass er Liberalismus ablehnt. So eine Grundhaltung kann ich bei uns nicht erkennen.»
Am 21. Mai wählt Griechenland, und für den Fall, dass sie es in eine zweite Amtszeit schaffen sollte, hat sich die Regierung von Kyriakos Mitsotakis grosse Ziele gesetzt. An erster Stelle: die Verbesserung der Effizienz des Justizsystems.
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