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Krankenkassen schlagen Alarm
Physiokosten explodieren – was dahintersteckt  

Die Zahl der Behandlungen nimmt zu: Eine Physiotherapeutin korrigiert die Übung einer Patientin. 
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Der Krankenkassenverband Santésuisse warnt vor einem neuen Prämienschub, nach mehreren Jahren mit nur geringen Aufschlägen. Die Gesundheitskosten sind im 2021 um 5 Prozent angestiegen, so stark wie seit 2013 nicht mehr. Am stärksten haben mit 18 Prozent die Kosten für Physiotherapie zugenommen, gefolgt von den ambulanten Arzt- und Spitalbehandlungen mit einem Plus von 6 und 7 Prozent.

Tatsächlich ist bei der Physiotherapie ein Boom zu verzeichnen. Die Ausgaben der Grundversicherung für Physiotherapie haben sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt, von 80 auf 150 Franken pro Jahr und  Versicherten. Zwar stellt die Physiotherapie mit 1,3 Milliarden immer noch einen geringen Anteil an den gesamten Gesundheitskosten von 36,6 Milliarden (2021). Dennoch wollen die Krankenversicherer den Gründen für die steigenden Physioausgaben nun nachgehen.

Bei den Physiopraxen kommt die Kostenwarnung der Versicherer schlecht an, denn die Therapeutinnen und Therapeuten profitierten vom Wachstum kaum. Sie verdienten real seit 20 Jahren gleich viel, was faktisch einem Verlust an Kaufkraft gleichkomme, schreibt etwa der Berner Kantonalverband. Kaum ein Beruf mit Fachhochschulabschluss werde so schlecht honoriert wie in der Physiotherapie. Zudem werde Physiotherapie immer von Ärztinnen und Ärzten verordnet und zu einem Pauschaltarif abgerechnet. Das Kostenwachstum generierten also nicht die Physiopraxen selbst.

Der Anfangslohn nach der Physioausbildung beträgt durchschnittlich 5400 Franken. Auf viel mehr als 7000 Franken bringen es auch Angestellte mit langer Berufserfahrung kaum. Die Krankenversicherung vergütet für 30 Minuten Physiotherapie rund 50 Franken, macht 100 Franken pro Stunde. Davon fällt ein beträchtlicher Teil für Infrastrukturkosten wie Praxismiete weg. «Wer so billig ist, kann nicht für einen grösseren Prämienschub verantwortlich sein», kontert eine Physiotherapeutin die Warnung vor steigenden Prämien.

«Die Kassen sehen nur die Kosten»

Über mangelnde Arbeit können sich die Physiotherapiepraxen hingegen nicht beklagen. «Wir sind durchgehend ausgebucht», sagt Adrian Treyer, Geschäftsführer einer Praxis mit zwölf Mitarbeitenden in Zollikofen. Für das Kostenwachstum bei der Physiotherapie hat er mehrere Erklärungen. Patientinnen und Patienten würden nach Operationen früher nach Hause geschickt. Die postoperative Betreuung, die früher noch teilweise stationär im Spital oder in der Rehaklinik geleistet wurde, übernehme nun häufig die ambulante Physiotherapie. «Nach erfolgter Implantation einer Hüft- oder Kniegelenksprothese müssen wir den Patienten oft zuerst das Gehen an Stöcken zeigen.»

Treyer ärgert sich darüber, dass die Krankenkassen vor allem die Kosten sehen. «Die Physiotherapie ist eine niederschwellige und günstige Therapie, welche mit ihrer prophylaktischen Wirkung auch zur Kostensenkung im Gesundheitswesen beiträgt.» So könne etwa eine Operation am Knie (Athroskopie) durch Physiotherapie vermieden oder hinausgeschoben werden.

Als weiteren Grund für die seit Jahren zunehmende Verschreibung von Physiotherapie sieht Treyer die steigenden Ansprüche der Gesellschaft an das gesamte Gesundheitswesen. Physio werde von Hausärztinnen und Hausärzten auch bei Rücken- oder Nackenschmerzen verschrieben, deren Ursache unter anderem in psychischen Belastungen durch beruflichen Stress oder private Probleme liege. Auch in Altersheimen sei Physiotherapie mittlerweile an der Tagesordnung. Das sei zwar in vielen Fällen sinnvoll, aber nicht immer.

Die Physiotherapie sei einer von mehreren Bereichen mit überdurchschnittlich starkem Kostenwachstum, das die Prämienzahlenden belaste, sagt Santésuisse-Sprecher Matthias Müller. Für den starken Anstieg im Jahr 2021 bei der Physiotherapie gebe es zwar gewisse Erklärungen, wie einen Nachholeffekt nach dem Lockdown von 2020. In diesem Jahr erlitt die Physiotherapie einen Umsatzrückgang von über 3 Prozent. Die Verschiebung von Operationen könnte zudem dazu geführt haben, dass eine konservative Behandlung durch Physiotherapie gewählt worden sei, sagt Müller. «Nichtsdestotrotz: Das Wachstum bei der Physiotherapie ist enorm, diese starke Mengenausweitung muss genau analysiert werden, damit das Kostenwachstum gebremst und die Prämienzahler entlastet werden.»

Neue Physiozentren an bester Lage

Ein Zeichen des Physiobooms sind neue Anbieter wie die Firma Physiozentrum mit mittlerweile 25 Praxen an bester Lage in den Stadtzentren der Deutschschweiz, meistens in Bahnhofsnähe. Laufend kommen neue Praxen dazu. Dass diese Expansion auch mit den geltenden Physiotarifen möglich ist, begründet Geschäftsführer Christoph Landolt mit der grossen Zahl an Behandlungen und einem «eisernen Kostenmanagement». Seit 2012 wurden vom Physiozentrum über zwei Millionen Behandlungen an 130’000 Patientinnen und Patienten durchgeführt. Limitierender Faktor im Geschäft sei einzig das Personal, sagt Landolt. Rund die Hälfte der Therapeutinnen und Therapeuten kommen aus Deutschland und Österreich.

Landolt führt die Regulierungen im Gesundheitswesen als einen der Gründe für das stetige Wachstum an. «Das Gesundheitswesen funktioniert eben nicht nach gängigen Marktmechanismen. Jene, die die Leistungen beanspruchen, müssen sie nicht selber bezahlen.» Die Praxen von Physiozentrum würden zu fast 90 Prozent aus den Grundversicherungsleistungen finanziert, ein Teil noch aus nicht kassenpflichtiger medizinischer Massage. Als Erfolgsrezept nennt Landolt, dass an jedem Standort ein Fitnesszentrum angegliedert ist. Aktive Therapie nennt sich das. Patientinnen und Patienten werden zum Training angeleitet statt passiv auf der Liege behandelt.