Party im KriegDürfen Ukrainer das?
Ein Kommentar der «Weltwoche» verharmlost die Situation im Kriegsland. Dabei verpasst das Blatt eine durchaus spannende Frage: Darf man in Kiew feiern, während an der Front Menschen sterben?
Flanieren und dinieren im sommerlichen Lwiw. Eine Beachparty in Kiew. Dank zwei kürzlich veröffentlichten Posts der «Weltwoche» wissen wir, dass in der Ukraine derzeit beides möglich ist.
Mit dem Ausflug in die Banalität des ukrainischen Alltags bezweckt das Blatt nur eines: Häme. Es kommentiert die friedlichen Bilder so: «Die Aufnahmen lassen jedenfalls nicht den Eindruck von Krieg entstehen.»
Das ist schlicht niederträchtig. In der Ukraine herrscht Krieg. Menschen sterben jeden Tag. Trotzdem ist das Land, 14-mal grösser als die Schweiz, nicht ein einziges grosses Schlachtfeld, auf dem sich blutende Menschen robbend durch den Morast bewegen.
Das Alltägliche zwängt sich, sobald es kann, stets durch die Ritzen des Horrors: eine ungemein starke Kraft, die zu irritierenden Kontrasten führt.
Ich war seit Februar 2022 zweimal in der Ukraine. Auch ein Land im Krieg hat einen Alltag: einkaufen, die Post austragen und ja, auswärts essen und trinken. Selbst in Bachmut, der hart umkämpften Frontstadt, konnte man Pizza bestellen, während ein paar Kilometer entfernt Bomben niedergingen.
Der legendäre polnische Kriegsreporter Ryszard Kapuscinski beschrieb das so: «Das Schöne und Ermutigende am Menschen ist dieses hartnäckige, heroische Streben nach Normalität, dem er beinahe instinktiv und gegen alle Widerstände folgt.»
Es ist die Absurdität des Kriegs. Das Alltägliche zwängt sich, sobald es kann, stets durch die Ritzen des Horrors: eine ungemein starke Kraft, die zu irritierenden Kontrasten führt.
Einen solchen erlebte ich bei meinem ersten Aufenthalt in Kiew auf einer Barterrasse. Ich lernte dort Dima kennen. Ende 20, Elektriker. Er war Teil einer Bürgerwehr, die in der Hauptstadt patrouillierte und das Militär bei den Checkpoints unterstützte. In seinem Auto lagen eine schusssichere Weste und eine Pistole, eine Glock 17. Er zeigte mir beides mit Stolz.
Die Millionenmetropole war im Ausnahmezustand, die Atmosphäre bleiern. Wenige Monate zuvor hatten die russischen Truppen noch an der Stadtgrenze gestanden. Zerbombte Häuser und ausgebrannte Panzer am Rand der Ausfallstrassen zeugten von dieser brutalen Schlacht.
Dima erzählte mir vom Schiessen und den Bomben. Er nuckelte dabei zufrieden an einer Shishapfeife. Im Hintergrund lief Electro, am Nebentisch knutschte ein Paar. Auf der gut gefüllten Terrasse waren alle entspannt. Wir wären gern sitzen geblieben. Aber um 22 Uhr mussten alle Gäste raus. Kein Service mehr. Die Ausgangssperre begann um 23 Uhr.
Ihr gutes Recht, sogar ihre Pflicht
Bei meinem zweiten Kiew-Besuch ein Jahr später lernte ich Juri kennen. Ende 30, DJ, Partyveranstalter und IT-Experte. Er hilft seinem Land mit seinen Computerkenntnissen. Zusammen mit seinem Lebenspartner wohnt der volltätowierte Mann in einem alten Fabrikgelände, in dem auch mehrere Clubs und Bars untergebracht sind.
Juri war mitten in den Vorbereitungen für eine grosse Party, die am Samstagmittag beginnen sollte. Die erste nach dem Ausbruch des Kriegs. «Wir freuen uns alle riesig», sagte er, «für ein paar Stunden diesem Wahnsinn zu entfliehen.» Die Technoparty wurde zu einem ekstatischen, fröhlichen Fest – und verlief ohne Störungen. Erst in der Nacht darauf ertönte wieder Luftalarm.
Dima in der Shishabar. Juri an der Party. Wer ihre Geschichte kennt, versteht: In kleinformatigen Posts auf Social Media lässt sich die Komplexität dieser Situation nicht darstellen.
Die eigentliche Frage, die spannende, wirft die «Weltwoche» nicht auf: Dürfen Dima und Juri Spass haben, während an der Front ihre Freunde sterben? Die Antwort darauf ist nicht kurz.
Bereits im Ersten Weltkrieg mokierten sich Menschen über die Pastis trinkenden Pariser auf den Bistroterrassen der Champs-Élysées, während im nahen Verdun Zehntausende in den Schützengräben verreckten.
Vielleicht ärgert er sich auch über die Vermögenden, die sich durch Korruption vor der Einberufung in die Armee drücken können.
Über hundert Jahre später ärgert sich auch Präsident Selenski über feiernde Landsleute. In einer kürzlich gehaltenen Rede sprach er davon, dass der Krieg nicht in den Bars und Clubs gewonnen werde. Selenski ist Oberbefehlshaber der Armee, es gehört zu seiner Aufgabe, die Kampfbereitschaft der Ukrainerinnen und Ukrainer nach über einem Jahr Krieg hochzuhalten.
Vielleicht ärgert er sich auch über die Vermögenden, die sich durch Korruption vor der Einberufung in die Armee drücken können. Auch sie tanzen im heissen Sommer von Kiew an Beachpartys und in Clubs.
Dima und Juri dürfte er kaum gemeint haben. Die beiden leisten vollen Einsatz für ihr Land. Jeder auf seine Weise. Dazwischen entspannen sie sich. Das ist ihr gutes Recht. Sogar ihre Pflicht. Sie suchen die Balance im ganz normalen Krieg.
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