Interview mit Gerichtspräsidentin«Parteizugehörigkeit spielt keine Rolle»
Werden SVP-Richter am Bundesverwaltungsgericht gezielt eingesetzt, um harte Asylurteile zu erreichen? Marianne Ryter nimmt erstmals Stellung zu diesem Vorwurf.
Ein dreiköpfiges Richtergremium, in dem zwei oder gleich drei SVP-Richter entscheiden? Das ist am Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen offenbar keine Ausnahme. Der bekannte Berner Asylanwalt Gabriel Püntener erhebt deswegen schwere Vorwürfe. In der Rundschau von Fernsehen SRF sagte Püntener, «in St. Gallen wird sehr häufig parteipolitisch motiviert entschieden. Vor allem dann, wenn die SVP zwei von drei Richtern stellt.»
Vorwürfe, die schon länger im Raum stehen, gehen noch weiter. Am Bundesverwaltungsgericht würden Richtergremien, sogenannte Spruchkörper, gezielt so zusammengesetzt, dass einseitige Urteile resultierten. Die Zusammensetzung von Richterbänken werde manipuliert – das heisst, Richter würden gezielt ausgewechselt, um ein bestimmtes Urteil zu erreichen, das andere Richter so nicht gefällt hätten.
Zahlenbasierte Fakten zum Thema lieferte Püntener der «Rundschau». So sei er in seinen 134 Verfahren, die er 2019 in St. Gallen geführt habe, 2-mal mit einem von den Grünen dominierten Spruchkörper konfrontiert gewesen, 10-mal mit einem SP-lastigen. 45-mal aber habe er Fälle vor einer SVP-dominierten Gerichtskammer vertreten müssen. In acht Fällen hätten in einem dreiköpfigen Gericht gleich alle Richter der SVP angehört.
Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts ist Marianne Ryter. Im Interview nimmt sie erstmals Stellung zu den Vorwürfen:
Frau Ryter, haben Sie am Bundesverwaltungsgericht ein Problem, weil die Zusammensetzung von Richterbänken manipuliert wird?
Nein. Der Vorwurf ist in der Tat gravierend, aber er ist nicht gerechtfertigt. Die Spruchkörper werden am Bundesverwaltungsgericht nach sachlichen Kriterien gebildet, wobei diese teilweise im sogenannten Bandlimat hinterlegt sind und teilweise manuell hinzugefügt werden.
Sie sprechen von einem Computersystem, dem sogenannten Bandlimaten, benannt nach dem ersten Gerichtspräsidenten Christoph Bandli.
Ja. In diesem System sind verschiedene Kriterien hinterlegt, nach denen die automatisierte Zuteilung von Richterinnen und Richtern in die einzelnen Spruchkörper erfolgt. Zum Beispiel die Hauptsprache der Richterin, Beschäftigungsgrad der Richter, deren Spezialisierungen. Hinzu kommen manuelle Kriterien, die – je nachdem – hinzugefügt werden müssen. Auch diese Kriterien sind transparent und zum Voraus definiert. Etwa Fälle, die verfahrenstechnisch zusammengehören oder wenn eine Richterin in den Ausstand treten muss. Oder auch, wenn es eine Kassation gab, also eine Aufhebung des Urteils.
Somit sind Ungerechtigkeiten systembedingt?
Was verstehen Sie unter Ungerechtigkeiten?
… zum Beispiel, wenn zwei SP-Richterinnen und ein Grüner im einen Fall zu einem milderen Urteil kommen als drei SVP-Richter in einem vergleichbaren Fall. Stört Sie das nicht, gerade als SP-Richterin?
Sie bezeichnen mich als SP-Richterin. (überlegt) Wir haben hier am Bundesverwaltungsgericht weder SP-Richterinnen noch SVP- oder FDP-Richter – wir sind Bundesverwaltungsrichterinnen und -richter. Die Parteizugehörigkeit der Richtenden entspricht zwar unserem Schweizer Wahlsystem. Das Parlament, das die Richterinnen und Richter wählt, berücksichtigt den Parteiproporz. Aber in meinem Alltag als Richterin spielt die Parteizugehörigkeit keine Rolle – weder für mich noch in der Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen. Das Etikett «Partei» ist kein Kriterium in meiner täglichen Arbeit. Und ich bezweifle, dass die Parteizugehörigkeit das ausschlaggebende Kriterium für einen Entscheid ist.
«Prägend für die eigenen Werte sind vielmehr Faktoren wie beruflicher Hintergrund, Lebenserfahrung, Alter, Geschlecht, Herkunft, Konfession oder die familiäre Situation.»
Die Parteizugehörigkeit von Richterinnen und Richtern ist nicht mehr als ein Etikett?
Ja, gewissermassen. Eine Verkürzung, die letztlich nicht viel wiedergibt. Rechtsprechung ist keine exakte Wissenschaft – es kann auch nicht alles rechtlich im Voraus geregelt werden. Gesetze belassen Gerichten deshalb oft einen gewissen Spielraum. So fliessen etwa beim Ermessen oder bei der Würdigung von Beweisen Werte und Wertungen in die Beurteilung eines Falles ein. Und als Menschen haben Richter und Richterinnen natürlich verschiedene Werthaltungen. Aber diese entsprechen keineswegs allein «Partei-Etiketten».
Widerspiegeln Parteien nicht auch Werthaltungen?
Schon, aber die Parteizugehörigkeit ist nur bedingt aussagekräftig. Prägend für die eigenen Werte sind vielmehr Faktoren wie beruflicher Hintergrund, Lebenserfahrung, Alter, Geschlecht, Herkunft, Konfession oder die familiäre Situation. Die Parteizugehörigkeit kann – wenn überhaupt – nur einen sehr kleinen Teil all dessen abbilden, was unser Wertesystem ausmacht. Das Partei-Etikett sagt zu wenig aus, und es ist nicht das, was relevant ist in der täglichen richterlichen Arbeit.
Also haben Sie Verständnis, wenn Ihr automatisiertes System Einseitigkeiten produziert?
Was meinen Sie mit Einseitigkeiten? Parteipolitische? Es ist eigentlich ganz einfach. Da für uns die Parteizugehörigkeit bei der Besetzung der Richterbank kein Kriterium ist, trägt das Zuteilungssystem dieser auch keine Rechnung. Es gibt übrigens auch andere «Einseitigkeiten»: Spruchkörper, die nur aus Männern oder nur aus Frauen bestehen, oder Spruchkörper, in denen nur jüngere Richterinnen und Richter mitwirken.
Und die manuellen Nachjustierungen?
Was heisst Nachjustierungen? Es gibt Fälle, in denen vordefinierte Kriterien manuell hinzugefügt werden müssen. Welche das sein können, habe ich gesagt. Würde man Spruchkörper nach parteipolitischen Kriterien bilden, stellten sich zudem noch ganz andere Fragen.
Welche denn?
Etwa jene der Verfassungsmässigkeit oder der Abgrenzung zwischen den verschiedenen Parteien. Meiner Auffassung nach würde es der Verfassung, dem Anspruch auf eine unabhängige Richterin widersprechen, wenn wir generell bei der Bestimmung des Spruchkörpers die Parteizugehörigkeit als Kriterium berücksichtigen würden. Und was wäre eine ausgewogene parteipolitische Zusammensetzung? Wären bei der Bildung von Spruchkörpern SVP und FDP gleichzusetzen? Wäre eine SP-Richterin automatisch gleich wie eine der Grünen? Wo wären – mit Blick auf parteipolitisch ausgewogen zusammengesetzte Gremien – Richterinnen und Richter aus der Mitte anzusiedeln, wo jene der Grünliberalen?
Worauf kommt es denn an, dass Urteile nicht der zufälligen Zusammensetzung von Gerichten überlassen sind?
Unter anderem auf die Koordination der Rechtsprechung. Im Asylbereich beispielsweise entscheiden rund 30 Richterinnen und Richter über Grundsatzfragen, die dann in allen gleich gelagerten Fällen gleich entschieden werden. Weiter sind die institutionelle und die individuelle Unabhängigkeit wichtig. Wir sind darauf angewiesen, dass unabhängige Richterpersönlichkeiten gewählt werden, dass die Parteien keinen Druck auf Richterinnen ausüben und sich die Richter an ihren Amtseid halten, also tatsächlich unabhängig sind und bleiben. Wir alle legen den Amtseid ab. Das ist mehr als eine Leerformel. Er bedeutet, dass ich Verfassung und Gesetz verpflichtet bin und nichts anderem.
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