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Meinung

Politkolumne
Wie polarisiert ist die Schweizer Politik tatsächlich?

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Nicht weniger als 12’100-mal berichteten die Medien im Vorjahr über «Polarisierung». Verdiente Politiker klagen über einen immer gehässiger werdenden Ton, der «der Demokratie schade». Beobachterinnen bemühen dramatische Sprachbilder («Gräben», «Spaltpilze»), um Lagerbildungen zu beschreiben. Und in der breiten Bevölkerung gewinnen viele den Eindruck, dass endgültig «Freund-Feind-Schemata» Einzug gehalten hätten.

Gemeinsames Ringen nach Kompromissen, gütliches Einvernehmen: All das, was die Konkordanzdemokratie einst auszeichnete, scheint in weiter Ferne. Doch wird die Schweizer Politik tatsächlich immer polarisierter?

Weltmeisterlich – je nachdem, wohin man blickt

So beliebt der Polarisierungsbegriff auch ist, so schillernd bleibt er. Ursprünglich der Physik entlehnt, wird er in der Politikwissenschaft wahlweise themen- oder gruppenbezogen gefasst; je nachdem, ob sich das Auseinanderdriften auf bestimmte Sachfragen oder ganze Gruppen bezieht. Ebenso wichtig ist es, «Arenen» zu unterscheiden: die jeweiligen Schauplätze, wo Parteien auftreten.

Eigentliche Polarisierungsweltmeisterin ist die Schweiz in Bezug auf ihr dreipoliges Parteiensystem (rot-grün, Mitte, rechts). Egal, ob es um «Markt» und «Staat» oder «Bewahren» und «Verändern» geht: Nirgendwo sonst liegen die Parteipositionen so weit auseinander. Die SVP ähnelt nicht etwa der CSU oder die SP ihrer sozialdemokratischen Schwesterpartei SPD, sondern die beiden Bundesratsparteien stehen den deutschen Polparteien AfD beziehungsweise Die Linke programmatisch weitaus näher. Eine von Alice Weidel und Sahra Wagenknecht angeführte Koalition mag nach einem lächerlichen Gedankenexperiment klingen. Im Bundesrat ist es gelebter Alltag.

Seine Zusammensetzung wirkt als «Polarisierungstreiber» ins Parlament hinein – und verhilft auch dieser Arena zu unrühmlichen Spitzenwerten: Gerade weil die Zauberformel so viele Kräfte wie möglich einbindet, können sich die Parteien nicht durch ein Regierungsprogramm von ihrer Konkurrenz abgrenzen. Stattdessen sind sie gezwungen, sich im National- beziehungsweise im Ständeratssaal quasi «per Knopfdruck» ideologisch zu sortieren. In sagenhaften 98 Prozent aller Abstimmungen votieren die Ratsmitglieder heute streng auf Parteilinie. Isolierte Positionsbezüge verkauft man gegenüber der eigenen Wählerschaft allzu gern als Erfolg. Dazu passt, dass SP, Mitte, FDP und SVP nur noch rund 8 Prozent aller Volksabstimmungen mit gleicher Parole bestreiten. In der Nachkriegszeit waren es noch 83 Prozent.

Geeinter als gedacht

Gleichzeitig ist das Parlament eine derjenigen Arenen, die eine differenziertere «Polarisierungsdiagnose» nahelegen. Denn die Rede- und Debattenpraxis hält mit dem sich entzweienden Abstimmungsverhalten nicht Schritt. Ein Mehrländervergleich kam jüngst zum Schluss, dass die Voten nicht generell negativer und emotionaler geworden sind. Im Gegenteil: Über die letzten 30 Jahre äusserten sich niederländische und britische Abgeordnete sogar seltener gefühlsbetont. Auch in der Schweiz zeigen sich die Parteien am Rednerpult erstaunlich immun gegenüber dem von der SVP angeschlagenen konfrontativen, rauen Ton.

Ob ein Parteiensystem tatsächlich dem Typus «polarisierter Pluralismus» entspricht, entscheidet sich im Wähleranteil sogenannter «Anti-Establishment-Parteien», die sich gegen den etablierten «Mainstream» wenden und für einen weitreichenden politischen Kurswechsel eintreten. Auch dieses Polarisierungsmass empfiehlt eine differenzierte Einschätzung: Die SVP betreibt seit je ein mäandrierendes Doppelspiel, indem sie gleichzeitig regiert und die Regierenden kritisiert. Sie konsolidierte sich jedoch vergleichsweise früh als wählerstärkste Partei, weshalb die Schweiz neben Malta das einzige westeuropäische Land ist, in dem die so gemessene Polarisierung nicht wächst. Weiter drifteten die migrations-, europa- und umweltpolitischen Einstellungen der Wählenden bereits Mitte der 1990er-Jahre auseinander. Selbst bei den oft zu einem «neuen Kulturkampf» stilisierten Sachfragen dominiert oft übersehene Stabilität.

Anfällig für «Polarisierungsunternehmer»

Ein polarisierter Zustand, aber eben kein sich polarisierender Zeittrend: Insgesamt entzaubert sich der «Spaltungsmythos» im Lichte der sich keineswegs ungebrochen verschärfenden, sondern je nach Arena unterschiedlich ausgeprägten Polarisierung. Auch der deutsche Soziologe Steffen Mau spricht von den Gefahren «herbeigeredeter Spaltung» – und warnt vor «Polarisierungsunternehmern», die der gewachsenen Einigkeit der Bevölkerung in bewusster Spaltungsabsicht begegneten. Just dafür zeigt sich das schweizerische Institutionengefüge aber anfällig: Einerseits erlaubt es das hybride Mediensystem Politikern, online kompromissloser, offline konzilianter aufzutreten. Und andererseits fehlt es in der nicht parlamentarischen Demokratie an Koalitionsverhandlungen, welche die Gräben anderswo nachweislich kitten – im Volk ebenso wie in der Elite.

Der Politologieprofessor Adrian Vatter und die promovierte Politologin Rahel Freiburghaus von der Universität Bern überprüfen regelmässig gängige Annahmen zu politischen Themen im Licht der politikwissenschaftlichen Forschung.