Kommentar zu Abnehmspritzen für KinderKinder sind nicht schuld an ihrem Übergewicht
So bitter es ist: Wenn die gesundheitliche Aufklärung versagt, ist die medikamentöse Therapie eine sinnvolle Option.
Jetzt sollen also auch übergewichtige Kinder mit Medikamenten Gewicht verlieren. Kürzlich hat eine Studie gezeigt, dass die Abnehmspritze Liraglutid auch bei stark adipösen Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren das Gewicht effektiv regulieren kann. Diabetes- und Stoffwechselexperten sehen das als grossen Erfolg und rechnen mit der baldigen Zulassung des Mittels für diese Altersgruppe. Wer weniger mit dem Thema vertraut ist, mag staunen: Täglich eine Spritze gegen die Pfunde schon im Primarschulalter? Die Kinder sollten stattdessen lieber weniger essen und mehr Sport treiben.
Der Gedanke ist naheliegend, verkennt aber die medizinische Realität. Ärztliche Gespräche, Ernährungsberatungen und Schulungen, die zu einem gesünderen Lebensstil führen sollen, sind gut gemeint, mitunter sogar gut gemacht, bringen aber meist wenig.
Stark dickleibigen Erwachsenen gelingt es selbst nach einschneidenden Ereignissen wie einem Infarkt nur selten und selten dauerhaft, ihren Alltag aktiver und gesünder zu gestalten. So leicht ist das Abnehmen nicht. Bei Kindern ist es noch schwieriger, weil dazu zusätzlich auch die Familie die Umstellung mittragen muss. Die Wirkung der Spritze – gemessen an verlorenen Kilos – mache das Zehnfache von dem aus, was mit Appellen, den Lebensstil zu verändern, erreicht werden könne, so die Schätzung von Experten.
Übergewicht muss als Krankheit anerkannt werden
Es ist nötig, sich in diesem Bereich der Medizin einzugestehen, dass Aufklärung und Information ihre Grenzen haben. Zumeist ist es kein Mangel an Wissen, dass Raucher weiter rauchen, Trinker weiter trinken und stark Übergewichtige weiter zu viel essen. Hinzu kommt, dass ungesunde Lebensgewohnheiten in den unteren Einkommens- und Bildungsschichten stärker verbreitet sind und diese schwerer zu erreichen sind. Der geringe Effekt, den gesundheitliche Aufklärung ohnehin nur hat, wird also weiter vermindert.
Im Fall von Übergewicht kommen Vorurteile hinzu: Wer es nicht schafft, sein Gewicht zu halten oder abzunehmen, wird oft als undiszipliniert und willensschwach abgeschrieben. Dicken wird schnell fehlende Leistungsbereitschaft nachgesagt, Häme und Spott gesellen sich oft noch hinzu. Übergewichtige werden diskriminiert, wenn es um Personalentscheidungen geht. Bei gleicher Qualifikation hat der 70 Kilo schwere Marathonläufer bessere Chancen als der 135 Kilo schwere Bewerber, der Fernsehen als Hobby angibt.
Dicken wird unterstellt, dass sie wie vermeintlich beim Essen auch in anderen Bereichen nachlässig sein könnten. Derartige Schuldzuweisungen sind demütigend und keine Motivation, um sein Leben in gesündere Bahnen zu lenken.
Was es dazu bräuchte, ist vielmehr, starkes Übergewicht als Krankheit anzuerkennen, nicht als ein selbst gewähltes Schicksal, sondern als gesundheitliches Problem, das sich nur schwer in den Griff bekommen lässt. So könnte eine Veränderung des Lebensstils mehr Chancen haben – und dann werden vermutlich auch weniger Abnehmspritzen gebraucht.
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