Verbrechen gegen die MenschlichkeitHistorischer Prozess gegen Gambias Ex-Innenminister beginnt in der Schweiz
Mord, Vergewaltigung, Folter: Die Anklageschrift ist ein Dokument des Grauens. Selten musste ein Schweizer Gericht so schwere Vorwürfe beurteilen wie im Fall um Ousman Sonko, der in der Schweiz untertauchte.

Am 8. Januar um 9 Uhr beginnt vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona ein Grossprozess. Allein die Dauer ist aussergewöhnlich: Bis Ende Monat hat die Strafkammer 17 Verhandlungstage eingeplant (und im März fünf Reservetage). Monströs sind aber vor allem die Vorwürfe gegen den einzigen Beschuldigten, Ousman Sonko; Mord, Vergewaltigung und vieles mehr. Gambias früherer Innenminister bestreitet alles.
Was wird ihm vorgeworfen?
Die 142-seitige Anklageschrift, verfasst von der Bundesanwaltschaft um Anklägerin Sabrina Beyeler, ist ein Dokument des Grauens und kaum zu ertragen. Über mehrere Seiten wird gleich am Anfang wiedergegeben, wie Sonko im Jahr 2000 als Hauptmann der Staatsgarde in Gambia einen putschverdächtigen Leutnant in eine Falle lockte und umbrachte. Dann wird im Detail beschrieben, wie der Beschuldigte die Witwe des Getöteten über Jahre hinweg immer wieder vergewaltigte und folterte.
Welche anderen mutmasslichen Taten sind angeklagt?
Neben dem Mord am Leutnant und den jahrelangen Grausamkeiten gegen dessen Witwe werden Sonko unter anderem vorsätzliche Tötungen, schwere Körperverletzungen, Folter, weitere Vergewaltigungen und Freiheitsberaubung vorgeworfen. Diese Taten soll der heute 54-Jährige über eineinhalb Jahrzehnte hinweg in Gambia begangen haben – die meisten zusammen mit anderen Tätern, darunter dem langjährigen Machthaber Yahya Jammeh.
Wer ist Ousman Sonko?
Sonko trat als 19-Jähriger der gambischen Armee bei und übernahm schnell wichtige Positionen. Das Vertrauen Jammehs gewann er als Angehöriger und späterer Kommandant der Staatsgarde, welche den Präsidenten schützte. Später übernahm Sonko verschiedene Spitzenpositionen in Militär und Polizei. Von 2006 bis 2016 war er Innenminister des kleinen westafrikanischen Landes mit über zwei Millionen Einwohnern. Der Prozess in der Schweiz ist für den Staat, der zu den ärmsten weltweit gehört, ein wichtiger Schritt in der juristischen Aufarbeitung seiner grausamen jüngeren Vergangenheit.
Wie war das politische Umfeld?
In Gambia herrschte Präsident Jammeh ab 1996 22 Jahre lang mit einem Schreckensregime. Staatliche Verschleppungen, aussergerichtliche Tötungen, willkürliche Verhaftungen und Folter gehörten zum Alltag. Die Bundesanwaltschaft schreibt von einem «ausgedehnten und systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung von Gambia». Noch kurz vor seiner Abwahl hatte Jammeh die politische Opposition als «Ungeziefer» bezeichnet, die man drei Meter tief begraben werde.

Der Langzeitherrscher unterlag 2016 an der Urne seinem Nachfolger. Seit Anfang 2017 befindet er sich im Exil. Gambia hat eine Wahrheits-, Versöhnungs- und Wiedergutmachungskommission eingesetzt, die sich mit den dunklen Jahren beschäftigt.
Wie läuft der Schweizer Prozess ab?
Im Strafverfahren der Bundesanwaltschaft nehmen verschiedene mutmassliche Opfer als Privatkläger teil, darunter die eingangs erwähnte Witwe. Vor Gericht sollen sie über mehrere Tage hinweg befragt werden. Sonko kann sich fortlaufend zu den einzelnen Anschuldigungen äussern. Weiter sind Zeuginnen und Zeugen aus Gambia geladen. Für die Plädoyers ist die letzte Januarwoche eingeplant.
Wie stellt sich Sonko zu den Vorwürfen?
In Befragungen hat Sonko geredet und geschwiegen und wieder geredet. Die Vorwürfe bestreitet er. Für die Taten seien, sofern es diese überhaupt gegeben habe, andere verantwortlich – allen voran die damals gefürchteten paramilitärischen «Jungler». Im vergangenen Monat hat ein Gericht im deutschen Celle einen Ex-«Jungler» wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und anderer Taten zu lebenslanger Haft verurteilt.
Weshalb ist die Schweizer Justiz überhaupt zuständig?
Die Bundesanwaltschaft verfolgt Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sobald sich ein mutmasslicher Täter in der Schweiz aufhält. Dieses Vorgehen erfolgt nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip. Es soll Straflosigkeit bei schwersten Taten, darunter Kriegsverbrechen, verhindern.
Was sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählen beispielsweise vorsätzliche Tötung, Versklavung oder Sexualdelikte, wenn sie im Rahmen eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden. Die Repression des Jammeh-Regimes mit Sonko richtete sich gemäss der Bundesanwaltschaft gegen die politische Opposition, gegen Journalisten und Putschverdächtige. Dokumentiert ist auch die Verfolgung und Verschleppung von Menschenrechtsverteidigerinnen und Angehörigen sexueller Minderheiten.
Was sind die Knackpunkte im Schweizer Prozess?
Seine Verbrechen soll Sonko gemäss Bundesanwaltschaft in all seinen Führungspositionen ausgeübt haben. Anfangs war er laut der Anklageschrift direkt involviert, später eher als Auftraggeber, was die Beweisführung verkompliziert. Einzelne der angeklagten Taten könnten verjährt sein, wobei Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjähren.
Vieles ist juristisch Neuland. Die Bundesanwaltschaft verfolgt Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit 2011. Seither gab es eine Verurteilung: Das Bundesstrafgericht hat im Juli 2023 eine zwanzigjährige Freiheitsstrafe gegen einen liberianischen Militärkommandanten in zweiter Instanz bestätigt.
Wie kam Sonko in die Schweiz?
Ousman Sonko hatte sich nach seinem Ausscheiden aus dem Innenministeramt nach Schweden abgesetzt. Doch die schwedischen Behörden überstellten ihn in die Schweiz. Er hatte erst wenige Monate zuvor ein Visum für die Schweiz erhalten – für die Teilnahme an einer internationalen Konferenz in Genf. Nun bat Sonko auch die Schweiz um Asyl.
In Durchgangszentrum Kappelen-Lyss wurde er von einem Landsmann erkannt. Die Genfer Menschenrechtsorganisation Trial erstattete Strafanzeige. Sonko wurde im Januar 2017 verhaftet. Bis heute sitzt er in Untersuchungshaft. Mit Entlassungsgesuchen ist er wiederholt abgeblitzt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.