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Historischer Prozess in der Schweiz
Hat der Kommandant das Herz eines Opfers gegessen?

Kriegsverbrecher oder Beschützer der Bevölkerung? Die Schweizer Justiz muss entscheiden, welche Version der Vergangenheit Alieu Kosiahs plausibler ist.
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«Sechs Jahre, ein Monat.» Das sind lange die einzigen zusammenhängenden Worte, die von Alieu Kosiah zu vernehmen sind. «Six years, one month», wiederholt der angeklagte ehemalige Milizenkommandant – in anklagendem Ton.

So lange, rekordverdächtig lange, sitzt der 45-jährige Liberianer nun schon in der Schweiz in Untersuchungs- und Sicherheitshaft. 2215 Tage, ohne ein Urteil.

Doch nun, am Donnerstag, hat endlich der Prozess gegen ihn begonnen. Für Alieu Kosiah ist es ein überaus wichtiger Tag, das merkt man an seiner bebenden Stimme.

Für die Schweizer Justiz ist der Tag alles andere als unbedeutend: Das Bundesstrafgericht beurteilt erstmals eine Anklage wegen Kriegsverbrechen.

Und für Liberia dürfte es gar ein historischer Tag sein: Zum ersten Mal werden mutmassliche Verbrechen aus dem grausamen Bürgerkrieg vor über einem Vierteljahrhundert juristisch aufgearbeitet. Im fernen Bellinzona zwar, aber immerhin.

Ein Kind mit Kalaschnikow

Doch trifft der Prozess den Richtigen? Das müssen in den nächsten Wochen die drei Richter entscheiden. Bis 2014 lebte Kosiah als Flüchtling in und um Lausanne. Seit Jahren in Freiheit. Dann wurde er festgenommen.

Nun wirft ihm die Bundesanwaltschaft auf 42 Seiten vor, viel schier Unmenschliches befehligt und selber ausgeführt zu haben. Knapp 18 Jahre alt war der Anführer einer Miliz laut der Anklageschrift, als er einen Zwölfjährigen als Bodyguard nahm. «Klein und mager» sei der Junge gewesen, aber er habe vom jetzigen Angeklagten eine Kalaschnikow und Granaten bekommen. Der «small soldier», der kleine Soldat, habe gewacht, während Kosiah, einer der «big men» schlief, er sei sein Mundschenk gewesen und musste die Front auskundschaften, bevor sein Kommandant hinging. Nach rund einem Jahr im Einsatz wurde der Kindersoldat durch eine Mine an beiden Händen und am Gesäss verletzt. Vier Personen starben.

Die grausamen Zebras

Staatsanwalt Andreas Müller, eben gescheitert mit seiner Kandidatur als Bundesanwalt, zeigt sich überzeugt, dass Kosiah nicht nur einen Minderjährigen rekrutiert und befehligt hat, sondern auch Ermordungen und Misshandlungen von Zivilisten anordnete und selber vollstreckte. Nach Plünderungen von Siedlungen und Infrastruktureinrichtungen hätten die Zebras – so der Name von Kosiahs Gruppierung – ausserdem männliche Jugendliche und Männer gezwungen, Waren in Gewaltmärschen an die Nordgrenze Liberas zu schleppen. Wer vor lauter Strapazen nicht mehr konnte, sei geschlagen oder auf der Stelle getötet worden. In den Nachbarländern wurden die so hingeschafften Rohstoffe und Industriegüter verkauft oder gegen Waffen und Munition getauscht.

Kosiah selber soll zudem eine kriegsvertriebene Frau mehrfach vergewaltigt haben.

Der Beschuldigte bestreitet alle Vorwürfe. Für einen Teil der Liberianer ist er gar ein Held, denn er beschützte sie mit seinen Ulimo-Milizen vor anderen Truppen wie jenen des Kriegsverbrechers und späteren Präsidenten Charles Taylor.

Liberianer demonstrieren am 12. November 2018 vor der amerikanischen Botschaft in Monrovia. Sie fordern die Eröffnung eines Prozesses wegen Kriegsverbrechen, die im Bürgerkrieg begangen wurden und 250’000 Opfer forderten.

Gemäss seinem Verteidiger war Kosiah ein Soldat und nicht an Kriegsverbrechen beteiligt. Zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Grausamkeiten sei er gar nicht an den angeblichen Tatorten in der Region Lofa gewesen.

Entsprechend soll Kosiah auch nichts mit der Ermordung von David Ndeminin zu tun haben. Der Lehrer an einer Missionsschule wurde gemäss Anklage im Beisein Kosiahs umgebracht. Ein Verbündeter namens «Ugly Boy» habe dem Opfer die Brust geöffnet und das Herz auf einem Metallteller präsentiert. «Alieu Kosiah und die anderen sind danach zu Ugly Boy gegangen», schreibt die Bundesanwaltschaft. «Sie haben tatsächlich das Herz roh gegessen.»

Corona erschwert Verfahren

Kannibalismus hat es nachweislich gegeben im Bürgerkrieg in Liberia, der zu den grausamsten Afrikas gehört.

Inwiefern Kosiah daran beteiligt war, muss die Verhandlung zeigen. Erschwert wird die Wahrheitssuche auch durch die Corona-Pandemie. Liberianischen Privatklägern ist die Anreise erschwert. Deren Anwälte betonten im Gerichtssaal in Bellinzona, wie wichtig der persönliche Eindruck von den zu Befragenden sei. Im Verfahren stünde Aussage gegen Aussage. Schriftliche Beweise gibt es keine.

Kosiah wird laut

Verschiedene Zeugen aus Liberia können aber wegen Covid-19 vorerst nicht befragt werden. Dazu dürfte es erst 2021 kommen. Bis dahin bleibt Alieu Kosiah in Haft.

Sein Verteidiger versuchte bereits zum Prozessauftakt, Aussagen gegen seinen Mandanten zu zerpflücken. Er griff insbesondere die Genfer Nichtregierungsorganisation Civitas Maxima an, welche Kosiah in der Schweiz aufgespürt und angezeigt hatte. «Ich wurde gezielt verfolgt», brach es aus dem Beschuldigten selber heraus, als er zum zweiten Mal laut wurde. Dann entschuldigte er sich und schwieg.