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Organspende bleibt an Zustimmung gebunden

Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn legt sich im Bundestag ohne Erfolg für die Widerspruchslösung ins Zeug. Foto: Kai Nietfeld (Keystone)
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Die Frage, ob Menschen nach einem Hirntod ihre Organe spenden, ist ethisch heikel und umstritten. Entsprechend teilten die Meinungen im Bundestag fast alle Parteien. Zwei Christdemokraten gehörten beispielsweise zu den wichtigsten Befürwortern und Gegnern der sogenannten doppelten Widerspruchslösung: Sie sieht vor, dass jeder als möglicher Organspender gilt, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat – oder dessen Angehörige nicht von dessen Widerspruch wissen.

Hermann Gröhe war von 2013 bis 2018 Gesundheitsminister und fuhr im Bundestag schweres Geschütz auf: Der Zwang, sich für oder gegen Organspenden entscheiden zu müssen, schränke das Selbstbestimmungsrecht in unerträglicher Weise ein. Eine erzwungene Spende sei keine Spende mehr, Schweigen niemals Zustimmung. Es genüge, die Bürger stärker für Organspenden zu sensibilisieren: «Wir haben bereits eine Kultur der Solidarität in diesem Land.»

Spahns neue Einsicht

Jens Spahn, Gröhes Nachfolger als Gesundheitsminister, widersprach ihm am Ende einer mehr als zweistündigen leidenschaftlichen Debatte frontal. In keinem anderen Bereich sei die medizinische Unterversorgung in Deutschland so dramatisch wie bei Organtransplantationen. «Nirgendwo sonst würden wir das akzeptieren.» Deswegen sei der Systemwechsel, den er 2012 noch abgelehnt habe, überfällig. Die Organspende müsse von der Ausnahme zur Regel werden. Niemand wolle jemanden zur Spende zwingen, sagte Spahn. Man wolle einzig erzwingen, dass sich jeder entscheiden müsse. «Ja, das ist eine Zumutung. Aber eine, die Menschenleben rettet.» Ja, es gehe bei der Frage um das Selbstbestimmungsrecht – aber auch um jenes der Frauen, Männer, Kinder, die in Kliniken verzweifelt und oft erfolglos auf ein Herz, eine Lunge oder eine Niere warteten.

Spahn hatte die Widerspruchslösung in den vergangenen 18 Monaten fast im Alleingang wieder zum Thema ­gemacht und schliesslich zusammen mit 221 Bundestagsabgeordneten aus fast allen Parteien eingebracht. Fast alle Minister der Regierung unterstützten ihn dabei, auch Kanzlerin Angela Merkel. Dennoch unterlag er in einer Abstimmung, in der der übliche Fraktionszwang nicht galt, deutlich: mit 292 zu 379Stimmen. Nur die Grünen und die AfD stimmten praktisch geschlossen gegen die Widerspruchslösung, alle anderen Parteien waren geteilt.

Drei Tote pro Tag

Deutschland bleibt damit zusammen mit der Schweiz und Dänemark eines der wenigen Länder Europas, das noch auf die erweiterte Zustimmungslösung setzt: Als Spender gelten nur Menschen, die ihren Spendewunsch dokumentiert haben oder deren Angehörige den entsprechenden Willen annehmen. So gut wie nirgends in Europa ist die Spendequote tiefer als in Deutschland und die Lage der Patienten dramatischer: Täglich sterben drei Menschen, weil das nötige Organ fehlt. Über 10000 stehen derzeit auf der Warteliste. Deutsche erhalten oft überhaupt nur rettende Organe aufgrund der Solidarität von Eurotransplant: In diesem Netzwerk ist Deutschland das einzige Land ohne Widerspruchslösung.

Das andere System ist nicht der einzige Grund für die höheren Spendequoten in anderen Ländern. Darum hat Spahn im vergangenen Sommer bereits ein Gesetz erlassen, das die Strukturen in den Spitälern verbessert. Um nicht ganz untätig zu bleiben, legten die Gegner der Widerspruchslösung unter Führung der Grünen-Chefin Annalena ­Baerbock am Donnerstag auch einen eigenen überparteilichen Antrag vor, der mit 432 zu 200 Stimmen angenommen wurde. Er sieht vor, dass Bürger verbindlicher über die Organspende informiert werden, etwa wenn sie einen Pass erneuern. Zudem soll man sich auch online als Spender registrieren können.

Laut einer ZDF-Umfrage ist die Widerspruchslösung in der Bevölkerung deutlich beliebter als im Bundestag: 61 Prozent befürworten sie, 36 Prozent lehnen sie ab. In allen Parteien ausser der AfD sind die Befürworter klar in der Mehrheit. Mit am höchsten ist die Zustimmung bei den Anhängern der Grünen – die sie im Bundestag pikanterweise nahezu geschlossen ablehnten.

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Auch die Schweiz wird bald über neue Organspenderegeln entscheiden: Im März 2019 haben welsche Initianten 140'000 Stimmen für die Einführung der Widerspruchslösung eingereicht. Im September beschloss der Bundesrat, der Initiative einen indirekten Gegenvorschlag gegenüberzustellen: die «erweiterte Widerspruchslösung». Bei ihr gilt jeder als potenzieller Organspender, der eine Spende nicht ausdrücklich ausgeschlossen hat – oder dessen Angehörige von einem Widerspruch wissen. In der Praxis entspricht das dem Vorschlag, der im Bundestag eben abgelehnt wurde.

Franz Immer, Direktor von Swisstransplant, glaubt nicht, dass der deutsche Entscheid den angestrebten Systemwechsel in der Schweiz belasten wird. «Ich habe die Ablehnung schon fast erwartet», sagte er auf Anfrage. Deutschland sei sehr restriktiv, was medizinische Regeln zum Lebensende angehe. Das zeige sich beispielsweise auch am Umgang mit der Sterbehilfe. «In der Schweiz ist die Einstellung liberaler.» Immer bleibt zuversichtlich, dass die Widerspruchslösung am Ende klare Mehrheiten finden wird.

In der Schweiz ist laut Umfragen die Zustimmung zum Systemwechsel noch grösser als in Deutschland: Im vergangenen Herbst befürworteten 76 Prozent die erweiterte Widerspruchslösung. In Deutschland wie in der Schweiz sagen mehr als 80 Prozent der Menschen, dass sie bereit wären, im Todesfall ihre Organe zu spenden. Nimmt man vergleichbare Spendertypen an, lagen die Quoten in der Schweiz und in Deutschland 2019 bei tiefen 11 beziehungsweise 10 Spendern pro 1 Million Einwohner. In Italien, Frankreich oder Österreich hingegen bei 25 bis 30. (de.)