Opernhaus ZürichUmarmungen gibts nur in der Infektionsgruppe
Grosse Aufführungen sind noch nicht möglich, an den Proben gelten strenge Hygienevorschriften. Doch mit kleinen Konzerten und sogar einer Verdi-Uraufführung meldet sich das Opernhaus beim Publikum zurück.
«Weisst du es noch?», singen die Liebenden, die sich soeben auf dem Wrack einer Jacht beziehungsweise auf der Zürcher Opernbühne wiedergefunden haben. Und «Weisst du es noch?» fragt sich wohl auch der Regisseur Jan Philipp Gloger, der diese Probe leitet: Denn das letzte Mal, dass man an dieser Szene aus Kálmáns «Csárdásfürstin» gearbeitet hat, ist fast vier Monate her.
Die Premiere der Erfolgsoperette hätte am 5. April stattfinden sollen, doch drei Wochen davor hatte der Bundesrat den Lockdown verhängt. Als die Proben gestoppt wurden, war man in einem ersten Durchgang gerade bei der letzten Szene angelangt. Und niemand wusste, ob und wann und wie es weitergehen würde.
Nun proben sie wieder, für ein paar Tage wenigstens. Der Rest wird vor der Premiere erledigt, die man am 25. September in den Spielplan geschoben hat. Schon diese coronabedingte Häppchentaktik ist nicht ganz einfach zu bewältigen. Aber noch weit komplizierter ist das Einhalten der Sicherheitsregeln.
Gloger seufzt, wenn man ihn darauf anspricht, vor allem der erste Akt bereitet ihm Kopfzerbrechen. Da ist das Wrack noch ganz, und wie das so ist auf einer Jacht: Es ist eng. Da müsse man schon einiges umorganisieren, sagt er; «wir versuchen natürlich, dass es nicht nach Kompromiss aussieht – aber es ist halt teilweise doch einer».
Beinahe kompromisslos ist dagegen die Umarmung der Liebenden: Geküsst wird nicht, aber Annette Dasch und Pavol Breslik fallen sich doch ergreifend innig um den Hals. Sie dürfen das, denn sie bilden eine Infektionsgruppe; damit sind sie von den Abstandregeln ausgenommen, müssen aber abseits der Bühne besonders strenge Vorsichtsmassnahmen befolgen.
Drei solcher Gruppen gibt es in dieser Produktion; und für die wenigen Momente, in denen die Abstände zwischen ihnen nicht eingehalten werden können, hat man die Kostüme um Handschuhe ergänzt. Gloger selbst trägt Maske, er kann auch ohne Mimik vermitteln, was er will.
Und noch etwas ist anders als vor dem Lockdown: Als Dirigent sitzt nicht mehr Ulf Schirmer in der Probe, der an den neuen Terminen verhindert war, sondern der 30-jährige Lausanner Lorenzo Viotti. Ein Glücksfall, Viotti gehört zu den gefragtesten Dirigenten der jungen Generation. Vor zwei Jahren wurde er für sein Zürcher Debüt mit «Werther» gefeiert, nun zeigt er, dass er auch ein gutes Gespür für Operettentiming hat: Das Orchester fehlt zwar noch, aber ein Klavier und zwei Sänger reichen, um den Mix aus Überschwang und Depression zu kreieren, der diese Musik ausmacht.
Testlauf für den grossen Klang
Einen Tag nach der Probe ist das Orchester da – und eröffnet unter der Leitung von Fabio Luisi jenes Festival, mit dem sich das Opernhaus vor der Sommerpause beim Publikum zurückmeldet. Gesungen wird nicht an diesem Abend, auch die Bläser sind zu Hause geblieben; man hat vorsichtig programmiert.
Aber gespielt wird mit fast kammermusikalischer Risikofreude: Strauss’ «Metamorphosen» für 23 Streicher, Schönbergs «Verklärte Nacht». Melancholische Werke also, die ihre schönsten Momente an diesem Abend dann haben, wenn sie sich ganz nach innen wenden. Extravertierte Ausbrüche gibts auch, fast opernhaft klingen sie hier: Als wolle man testen, ob das noch möglich ist, diese Ekstase, das Fortissimo, der grosse Klang.
Fünfzig Sekunden kurz ist das Lied, das im lange unter Verschluss gehaltenen Verdi-Nachlass entdeckt wurde.
Auch die Sängerinnen und Sänger des Festivals werden sich an die kleinen Formate halten: Lieder, Arien, Duette. Den Anfang macht morgen Montag Benjamin Bernheim – mit einer charmanten Überraschung: Als Zugabe gibts nämlich eine veritable Verdi-Uraufführung.
Rund fünfzig Sekunden kurz ist das Heine-Lied «Quand’io mi trovo alla mia Bella accanto», das der Berner Musikwissenschaftsprofessor Anselm Gerhard entdeckt hat: im Staatsarchiv von Parma, unter jenen 5000 Seiten aus dem Verdi-Nachlass, die seine Erben nach langer Verweigerung endlich freigeben mussten. Das Lied fand sich zwischen den Entwürfen zu «Don Carlos» – und ist eigentlich nur eine Skizze: Die Melodiestimme ist ausgearbeitet, aber von der Klavierbegleitung ist nur der Bass notiert; den Rest hat Gerhard aufgrund ähnlicher Passagen im «Don Carlos» ergänzt.
Offenbar hat Verdi nicht mit einer Aufführung gerechnet, mit guten Gründen. Denn Lieder waren damals vor allem bei Amateuren beliebt, die mit dieser Melodie hoffnungslos überfordert wären; die schnellen Triolen und das hohe C schafft nur ein Bravourtenor.
Aber warum hat Verdi das Lied überhaupt geschrieben? Man könne nur rätseln, sagt Gerhard. Bekannt ist, dass der eher knausrige Komponist dazu gedrängt worden war, eine italienische Übersetzung der Heine-Gedichte zu bestellen; darüber hat er sich in einem Brief beschwert. Gut möglich, dass das Lied ein Versuch war, den Kauf irgendwie profitabel zu nutzen.
Nun profitiert immerhin das Zürcher Publikum davon: mit dem doch sehr exklusiven Privileg, eine vollkommen unbekannte Verdi-Melodie zu hören.
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