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Kämpfer für die Rechte der Schwarzen
Ohne ihn wäre Obama nie Präsident geworden

Mobilisierte die schwarzen Wähler für den ersten schwarzen Präsidenten: Barack Obama verleiht John Lewis die Medaille der Freiheit.
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Der 7. März 1965 war der Tag, an dem Amerika John Lewis kennen lernte. 600 Männer und Frauen waren an jenem kalten Frühlingstag im Ort Selma in Alabama aufgebrochen, zum Marsch nach Montgomery, der Hauptstadt des Bundesstaats, um für das Wahlrecht der Schwarzen zu demonstrieren.

Lewis hatte sich wie immer gut vorbereitet. Nach beinahe 40 Verhaftungen bei politischen Aktionen hatte er Routine. Lächelnd erzählte er einmal, was er bei solchen Gelegenheiten in seinen kleinen Rucksack packte: «Einen Apfel, eine Orange, dazu Zahnpasta und eine Zahnbürste, ausserdem zwei Bücher gegen die Langeweile im Gefängnis.»

«Wir blickten auf ein blaues Meer»

In Zweierreihen marschierten die Demonstranten über die Edmund-Pettus-Brücke in Selma. Vom Scheitelpunkt der Brücke sahen sie, was sie erwartete: «Wir blickten auf ein blaues Meer – alles Uniformierte.» Alabamas berüchtigte State Trooper standen am Fuss der Brücke, mit Gasmasken und Schlagstöcken. Der Sheriff forderte die Demonstranten auf, ihren Marsch zu stoppen, doch sie gingen weiter. Sekunden später wurde Lewis, der 25 Jahre alte Student im hellen Trenchcoat, von einem Polizisten mit dem Knüppel niedergestreckt: «Ich dachte, ich sterbe», sagte er später. Er überlebte, mit Schädelbruch.

Die Fotos und Fernsehbilder des strauchelnden, des blutenden Lewis gingen durchs Land und um die Welt. Präsident Lyndon B. Johnson verurteilte noch am Abend dieses Tages, der als «Bloody Sunday» in die US-Geschichte einging, Alabamas Staatsgewalt.

Eine Woche später legte er den Gesetzentwurf für den historischen «Voting Rights Act» vor, der die Tricks und Finessen verbot, mit denen die Nachfahren der Sklaven im Süden um das Wahlrecht betrogen wurden. Ohne den Marsch von Selma hätte Jimmy Carter 1976 nicht das Weisse Haus erobert. Und Barack Obama wäre 2008 nicht Präsident geworden.

Tribut für einen unermüdlichen Kämpfer: Trauernde legen vor einem Wandgemälde von John Lewis in Atlanta Blumen nieder.

Obama half nicht nur das Wahlgesetz, das Lewis mit Todesmut 1965 in Selma erzwungen hatte. Im Jahr 2008, als er gegen Hillary Clinton um die demokratische Präsidentschaftskandidatur stritt, spielte Lewis eine entscheidende Rolle.

Aus alter Freundschaft hatte er sich früh für Clinton ausgesprochen, um dann in dem Himmelsstürmer aus Chicago die plötzliche Chance für «den grossen Schritt» zu erkennen: den Marsch eines Afro-Amerikaners bis ins Weisse Haus. Lewis bat Clinton um Verzeihung und mobilisierte fortan schwarze Wähler für Obama. Nach der Vereidigung am 20. Januar 2009 widmete Obama seinem Vorkämpfer im Kapitol ein Erinnerungsfoto mit den Worten: «Because of you, John.» Deinetwegen, John.

John fütterte die Hühner und las ihnen aus der Bibel vor.

John Lewis wurde am 21. Februar 1940 in der Nähe des Örtchens Troy in Alabama als drittes von zehn Kindern von Eddie und Willie Mae Lewis geboren. Seine Eltern waren Farmer auf Land, das einem Weissen gehörte. John war vor allem für die Hühner zuständig. Diese fütterte er und las ihnen aus der Bibel vor. Wenn ein Huhn starb, inszenierte er eine aufwendige Beerdigung. In seiner Familie erhielt er den Spitznamen «Prediger».

In Nashville, Tennessee, studierte er später tatsächlich an einem baptistischen Priesterseminar. Zugleich war er Aktivist und setzte sich dafür ein, dass Schwarze ebenso in den Restaurants essen durften oder in den Bussen fahren wie Weisse. 1960 wurde er wegen dieser Proteste erstmals festgenommen. Es war der Auftakt zu einer Reise, die er einen «heiligen Kreuzzug» nannte. Er nahm teil an den «Freedom Rides» – Fahrten in Bussen, die für Weisse reserviert waren. Dabei wurde er mehrmals schwer zusammengeschlagen. Einmal lag er bewusstlos in einer Blutlache an der Greyhound-Station in Montgomery.

Mit Martin Luther King im Weissen Haus: John Lewis (Bildmitte hinter King) 1963 bei einem Empfang durch Präsident John F. Kennedy.

Am 28. August 1963 marschierte er an der Seite von Martin Luther King nach Washington und sprach am Lincoln Memorial vor mehr als 200’000 Menschen. Der Tag ist vor allem für Kings wohl berühmteste Rede («I have a dream») bekannt, aber auch der erst 23 Jahre alte Lewis hinterliess grossen Eindruck. «Wach auf, Amerika!», rief er, «wach auf! Denn wir können nicht mehr innehalten, und wir können und werden nicht geduldig sein.»

1986 erstmals in den Kongress gewählt

In den USA wird das Wort Held recht freizügig verwendet, doch John Lewis war genau das: ein «American Hero». Dieser kleine Mann mit dem kahlen, runden Schädel war nicht nur eine Ikone der Linksliberalen, auch viele Republikaner zollten ihm Respekt. Vielleicht nicht dafür, dass er alljährlich als Pazifist gegen das US-Militärbudget votierte. Aber dafür, dass er sein Leben lang für eine «gerechte Sache» gekämpft hatte, wie 2011 selbst Jeff Sessions, der damalige, erzkonservative Senator Alabamas am Rande einer Gedenkveranstaltung für den Marsch von Selma sagte.

1986 war Lewis als demokratischer Abgeordneter in den Kongress gewählt worden, als Repräsentant von Atlanta, Georgia. Das Grabmal seines ermordeten Idols Martin Luther King gehörte zu seinem Wahlkreis. Wieder und wieder wurde Lewis seither im Amt bestätigt, und er nutzte seinen Heldenstatus dazu, um sehr kämpferisch für eine linke Agenda zu werben: allgemein für eine gerechtere Sozialpolitik, oder konkret zum Beispiel für Obamas Krankenversicherung (auf dem Weg zur Abstimmung beschimpften ihn Tea-Party-Anhänger als «Nigger»). Im persönlichen Umgang hingegen blieb er stets ein zutiefst bescheidener, ein nahbarer, ja demütiger Mensch.

Auch Republikaner zollten dem Demokraten Respekt: Nach dem Tod von John Lewis hängen die Flaggen auf halbmast.

Jedes Jahr um den 7. März zelebrierte Lewis mit Vertrauten eine Begegnung in Selma, um an den Marsch von 1965 zu erinnern. Geladen wurden Politiker aus allen Lagern. Zudem immer auch Schüler und Studenten, die sich in der High School oder an ihrer Uni engagierten, gegen Rassismus, gegen Armut, für Klimaschutz.

Denen diente Lewis als Mutmacher. Beim Frühstück im Hotel, im Bus auf dem Weg zur Brown Chapel von Selma, dem Ausgangspunkt des Marsches, oder abends beim Eistee in der Lobby: Immer spornte Lewis seine politischen Enkel an, sich einzumischen: «Seid zuversichtlich, habt Hoffnung», sagte er, «get into good trouble!» Macht guten, weil nötigen Ärger.

«Diese Proteste nenne ich ‹good trouble›»

Im Dezember vergangenen Jahres teilte Lewis mit, dass bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert worden sei. Seither waren seine Auftritte in der Öffentlichkeit spärlich geworden. Dem Sender CBS gab er im Juni ein letztes Interview. Darin äusserte er sich zu den Protesten gegen Rassismus, die im ganzen Land ausgebrochen waren, nachdem ein weisser Polizist den Schwarzen George Floyd getötet hatte. «Diese Proteste nenne ich ‹good trouble›», sagte er, «sie sind so viel grösser und vielfältiger. Es wird kein Zurück mehr geben.» Es klang, als wisse er sein Erbe in guten Händen.

Am vergangenen Freitag ist John Lewis, der Prediger und Bürgerrechtler, der Parlamentarier und Kämpfer, im Alter von 80 Jahren in Atlanta an den Folgen seiner Krebserkrankung gestorben.