Gastbeitrag zur Zürcher JustizObergericht schickt Bezirksrichter zu Unrecht in den Ausstand
Nach zwei Freisprüchen von Klimademonstrierenden entzieht die Zürcher Justiz einem Bezirksrichter ähnlich gelagerte Fälle. Der Entscheid ist zu kritisieren.

Anlässlich von Klimademonstrationen kommt es regelmässig zu Behinderungen des öffentlichen Verkehrs. Die zürcherischen Staatsanwaltschaften sehen darin eine Nötigungshandlung und bringen die Fälle mit standardisierten Anklagen und in grosser Zahl vor Gericht. Der Zürcher Bezirksrichter Roger Harris (Die Mitte) hatte in der Vergangenheit regelmässig bei Verkehrsblockaden Schuldsprüche gegen Klimaaktivistinnen verhängt. Dies hatte für ihn keine Konsequenzen.
Im Sommer 2022 sprach Bezirksrichter Harris erstmals zwei Demonstrierende frei. Er kündigte anlässlich der mündlichen Urteilsbegründung an, bei allfälligen weiteren Verfahren gegen Klimademonstranten künftig der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nachzuleben. Diese sieht vor, dass eine strafrechtliche Verurteilung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern von Demonstrationen grundsätzlich gegen die Meinungsäusserungsfreiheit verstösst.
Die Staatsanwaltschaft sah in dieser Äusserung einen Ausdruck von Befangenheit und verlangte vor dem Obergericht den Ausstand von Roger Harris. Die Staatsanwaltschaft bekam recht. Mit Entscheid vom 14. November 2022 entzog das Obergericht dem Bezirksrichter zwei Strafverfahren wegen Klimademonstrationen. In der Begründung heisst es, der urteilende Richter sei nicht bereit, «seine Auffassung betreffend die Rechtsprechung des EGMR jeweils aufs Neue zu hinterfragen».
Recht – vor allem Strafrecht – braucht Vorhersehbarkeit.
Die öffentliche Ankündigung, künftig in gleich gelagerten Fällen gleich zu entscheiden, wurde dem Bezirksrichter zum Verhängnis. Doch begründet dies tatsächlich den Anschein von richterlicher Befangenheit?
Das Gleichbehandlungsgebot ist einer der wichtigsten Kernpfeiler unseres Rechtsstaats. Es besagt: Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln. Recht – vor allem Strafrecht – braucht Vorhersehbarkeit. Eine Richterin, die sagen würde, heute verurteile ich jemanden, der zu schnell fährt, aber morgen würde ich den gleichen Fall anders beurteilen, hätte ein massives Glaubwürdigkeitsproblem.
Vor diesem Hintergrund waren die Äusserungen des Bezirksrichters zu verstehen. Seine öffentliche Ankündigung, künftig der Rechtsprechungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besser nachzuleben, diente der Vorhersehbarkeit und der Rechtsgleichheit. Die Begründung des Obergerichts, dass Bezirksrichter Harris wegen seiner Rechtsüberzeugung, dass die Klimademonstrationen von der Meinungsäusserungsfreiheit gedeckt sind, befangen sein soll, ist rechtlich nicht nachvollziehbar und bedeutet einen massiven Eingriff in seine richterliche Unabhängigkeit.
Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesgericht, das die Beschwerde einer Klimaaktivistin zu beurteilen hat, den Fehlentscheid des Obergerichts korrigieren wird.
* Adam Arend und Antigone Schobinger sind Vorstandsmitglieder der Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich.
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