Tabubruch am Australian OpenDjokovic stört sich an den neuen Freiheiten der Tennisfans
In Melbourne müssen die Zuschauer nicht mehr bis zum Seitenwechsel ausharren, um in die Arena zu gelangen. Topspieler nerven sich über den Trubel – auch, weil sie übergangen wurden.
Wer schon einmal an einem Tennisturnier war, kennt es: Man geht kurz ein Getränk holen oder auf die Toilette, und dann steht man danach vor dem Eingang an und wartet ungeduldig, bis endlich der nächste Seitenwechsel kommt. Das kann bis zu 10 oder 15 Minuten dauern, im schlimmsten Fall verpasst man die entscheidenden Ballwechsel.
So empfiehlt es sich, nicht allzu viel zu konsumieren, damit man nicht nach draussen gehen muss, sondern auf seinem Platz in der Arena bleiben kann. Aber das ist natürlich nicht im Sinn der Veranstalter, die es gern haben, wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Anlage möglichst viel Geld ausgeben.
Das Australian Open hat nun einen Ausweg gefunden – oder einen Tabubruch begangen, je nach Sichtweise. Die Tennisfans dürfen nach jedem Game ins Stadion rein, nicht nur bei Seitenwechseln. Das sorgt für Aufruhr bei den Profis. Zumal diese offenbar vorgängig nicht darüber informiert wurden. Der Australier Jordan Thompson beschwerte sich in seinem Erstrundenspiel lautstark über das Kommen und Gehen in den Rängen. «Oh mein Gott, das ist das wokeste Turnier aller Zeiten!», schrie er.
Nur 20 statt 90 Sekunden Zeit
Möglicherweise wählte Thompson im Ärger das falsche Wort. Woke steht ja gemäss Duden für «in hohem Mass politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung». Gut, man könnte argumentieren, nun würde das Publikum endlich nicht mehr diskriminiert. Jedenfalls löste Thompson mit seinem Aufschrei eine Diskussion über die neuen Gepflogenheiten aus.
Das Problem ist: Während Seitenwechseln beträgt die Pause 90 Sekunden, zwischen den Punkten oder den geraden Games nur 20 Sekunden. Was dazu führt, dass nicht alle hineinströmenden Fans gleich ihren Platz finden. Und so herrscht auch dann noch Unruhe auf den Rängen, wenn das Spiel weitergehen sollte.
«Wir stürmen auch nicht einfach ins Büro»
«Wie viele Jahre haben wir schon Tennis gespielt, und dann kommen sie plötzlich auf die Idee, dass die Leute einfach so hineinströmen dürfen. Das stört den Rhythmus aller», polterte der 29-jährige Thompson. «Wenn jemand hinten herumläuft und du den Ball hochwirfst, ist es unmöglich, ihn zu sehen, wenn du eine Person dahinter hast, die sich bewegt. Meiner Meinung nach ist das nicht gut. Wir arbeiten da draussen, das ist unser Job, wir sind Tennisprofis. Wir stürmen auch nicht einfach in ein Büro, wenn jemand in einer Besprechung ist.»
Novak Djokovic räumt ein, er verstehe die Idee dahinter, «aber während meiner ganzen Karriere war ich eine gewisse Atmosphäre gewohnt. Und wenn sich diese verändert, lenkt mich das ab.» Erstaunlich ist, dass nicht einmal die Weltnummer 1 vorher darüber informiert wurde.
Weniger diplomatisch gaben sich andere Topspieler. So sagte Stefanos Tsitsipas: «Im Tennis fliegt ein winziger gelber Ball herum, und der erfordert unsere 100-prozentige Konzentration. Deshalb ist Wimbledon eines meiner Lieblingsturniere: Weil es dort ruhig ist und man sich einfach auf sein Spiel konzentrieren kann.» Was ihm, nebenbei bemerkt, in seinem hitzigen Duell gegen Nick Kyrgios 2022 nicht so gut gelang. Doch das lag an seinem Gegner, der ihn unaufhörlich provozierte.
Der Turnierdirektor bleibt stur
Turnierdirektor Craig Tiley, der schon manchen Sturm überstanden hat, zeigt sich jedenfalls unbeeindruckt von der Kritik der Spieler. «Wir haben noch einen kleinen Weg vor uns», sagte er gegenüber Channel 9. «In den oberen Rängen handhaben wir es schon seit Jahren so, nun tun wir es auch unten. Wir wollen nicht, dass unsere Fans, die rausgehen, um etwas zu essen oder zu trinken, mehrere Games lang warten müssen, bis sie wieder hineingehen können. Die Mehrheit der Spieler hat damit kein Problem. Es gibt einige, die es als störend empfinden. Daran arbeiten wir.»
Mit anderen Worten: Das Turnier wird diese Praxis beibehalten. Und in der Tat gibt es Spielerinnen und Spieler, die sich nicht daran stören. Der Amerikaner Frances Tiafoe sagt sogar, die Zuschauer sollten wie in anderen Sportarten wie Basketball die Freiheit haben, «zu kommen und zu gehen und während der Matchs zu sprechen». Die Polin Iga Swiatek spielte auch auf die Gepflogenheiten in den USA an: «Ehrlich gesagt, wenn ich mich am US Open aufs Spiel konzentrieren kann, dann schaffe ich es überall.»
Melbourne bekannt für Innovation
Tiley appelliert auch an die Kooperation der Fans. Wenn jemand zwischen den Games in die Arena komme und es nicht auf seinen Sitz schaffe, solle er sich fürs Erste einfach auf einen freien Platz setzen. Der 62-jährige Südafrikaner, seit 2013 der Turnierdirektor am Australian Open und bei den meisten Spielerinnen und Spielern beliebt, treibt in Melbourne die Innovation voran. Das hat hier Tradition. 1988 gab es in der Rod-Laver-Arena das erste schliessbare Dach. Wimbledon zog 2009 nach, das US Open erst 2016 und Roland Garros 2020.
Vor nicht allzu langer Zeit war auch Musik bei Seitenwechseln noch undenkbar, inzwischen gehört sie zur Unterhaltung während der Matchs. Ebenso die Einblendungen und die Spielchen auf den Videowürfeln. Auch die lockerere Handhabung bezüglich Einlass wird sich mit der Zeit durchsetzen. Vielerorts, aber nicht in Wimbledon, im Hort der Traditionen.
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