Österreichs EinreisestoppNicht einmal wenn Mama stirbt, ist ein Besuch möglich
Die Schweizerin Astrid Falk darf ihre krebskranke Mutter in Österreich nicht besuchen. Die Österreicher machen selbst dann keine Ausnahme, wenn ein Familienmitglied stirbt.
Im ersten Moment gibt sich die Mutter von Astrid Falk kämpferisch. «Ich kann Krieg» schreibt sie der Tochter per SMS, als das Undenkbare eintritt. Österreich schliesst wegen des Coronavirus die Grenzen: die Mutter in Lustenau, Astrid Falk in St. Gallen und dazwischen der Rhein, der sie trennt.
Zwei Wochen später ist die Stimmung der krebskranken 86-Jährigen gekippt. Die offene Wunde am Bein ist stärker entzündet, und Astrid Falks «Mamme» weiss: Wenn sie ins Spital muss, dann alleine. Ihre Tochter kann nicht wie sonst den Toyota nehmen und in 40 Minuten bei ihr sein.
Auch Emma, die Mutter von Thomas Smetana, vermisst ihren Sohn, die einzige wirkliche Bezugsperson, die sie hat. «Herrgott, i brauch di», sagte ihm die 82-Jährige kürzlich am Telefon, klitschnass, weil ihr der Gartenschlauch aus der Hand fiel und sie sich vollspritzte: «Wie lange geht der Dreck noch, Tommi?»
«Der Dreck» – das ist «BGBI. II Nr. 87/2020». Selbst für Doppelbürger ist es aufgrund dieses österreichischen Gesetzes momentan fast unmöglich, ins Land einzureisen.
«Die Mama besuchen zu wollen, ist kein Grund.»
Erst am Ende der Brücke, Grenzübergang Höchst, österreichische Seite, merkt Thomas Smetana, dass er wieder umkehren muss. «Die Mama besuchen zu wollen, ist kein Grund», sagt ihm der Zöllner. Um einzureisen, brauche er entweder einen negativen Corona-Test, höchstens vier Tage alt, oder er müsse sich zu einer sofortigen Quarantäne verpflichten, zweiwöchig.
Thomas Smetana kann beides nicht. In der Schweiz ist ein Test nicht möglich, weil Smetana keine Symptome hat und nicht als besonders gefährdete Person gilt. Und für 14 Tage kann er St. Gallen nicht verlassen, wo er arbeiten muss.
Die Schweiz, Deutschland und Italien machen Ausnahmen bei der Einreise. Österreich nicht. Selbst wenn ein enges Familienmitglied stirbt, muss der Zöllner «BGBI. II Nr. 87/2020» umsetzen, das bestätigt die Voralberger Landesregierung.
Das falsche Insulin
«Crazy», sagt Thomas Smetana. Als er in Höchst nicht «übert Grenz» kommt, versucht er es auch noch in Au, scheitert ebenfalls. Seither sei er überfordert und oft «down». Emma, seine Mutter, ist Diabetikerin. Am Dienstag hat sie sich das falsche Insulin gespritzt, verarztete sich dann selbst. Sie mass alle zwanzig Minuten den Zuckerspiegel, pegelte ihn mit Cola und Marmeladenbrot aus und war erst um halb 11 in der Nacht wieder stabil.
Normalerweise hätte Emma ihren Sohn angerufen, sofort, und Thomas wäre ins Auto gesprungen. Jetzt nicht. Erst zwei Tage später beichtete Emma ihm den Höllenritt am Telefon. «Sie hätte sterben können», sagt Thomas Smetana – und er hätte nicht mal hinfahren können.
Bescheidene Wünsche
Ein bisschen lockerer ist Thomas Smetana, seit Carmen seine Mutter besucht. Lange hat er überlegt, wer Emma unterstützen könnte. In Bregenz kennt er fast niemanden. Doch als er durch seine Facebook-Freunde scrollt, stösst er auf Carmen, eine Jugendfreundin, 30 Jahre haben sie sich nicht gesehen. «Hallo», schreibt er nur – und schon kommt die Antwort: «Jo mai, de Tommi. Wer kümmert sich um deine Mutter?»
Jetzt kauft Carmen für Emma ein. Die falschen Mandarinen zwar, «die weichen», wie die Mutter ihrem Sohn am Telefon erzählt, aber immerhin.
Sie sei kein normales 82-jähriges Mütterchen, sagt Thomas Smetana, «sondern autonom, in der Corona-Krise gerade ein bisschen zu autonom». Weil sie nicht zum Friseur kann, will sich Emma im Supermarkt ein Haarband kaufen. Weil sie momentan nichts zu tun hat, will sie im Fundbüro den Schlüssel abholen, den sie vor einem halben Jahr verloren hat.
«Ich habe Angst, dass meine Mutter leichtfertig wird», sagt Thomas Smetana. Gerade jetzt wäre er gerne für sie da. Er will für sie das Haarband kaufen und sie ins Spital bringen, wenn sie unterzuckert ist; bescheidene Wünsche. «Ich bin enttäuscht von Österreich», sagt Smetana. «BGBI. II Nr. 87/2020» sei kompromisslos.
Keine Ausnahme
Astrid Falk geht noch weiter. Eine «seelische Grausamkeit» nennt sie das Gesetz. Dass der Berufsverkehr weiterrolle, sie ihre krebskranke Mutter aber nicht besuchen dürfe, sei schlimm. «Geld vor Menschlichkeit.»
Den Moment, in dem sie von der Grenzschliessung erfahren hat, beschreibt Falk als «Schockstarre». Sie sei ratlos und traurig vor dem Fernseher gesessen und habe dann Ämter abtelefoniert: die Polizeidirektion Vorarlberg, die Österreichische Botschaft in Bern, den Zoll, den Kanton St. Gallen, die Bezirkshauptmannschaft Dornbirn. Alle seien höflich gewesen, doch sie hätten wie Roboter «BGBI. II Nr. 87/2020» rezitiert, sagt Astrid Falk. Zwei Wochen lang kämpfte sie für eine Ausnahmegenehmigung und musste ihrer Mutter dann sagen: «Mir fällt nichts mehr ein. Geht nicht gibts.»
Auch das Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) kann ihr nicht helfen, sagt Mediensprecher Lukas Rieder. «Bis die Einreisebestimmungen gelockert werden, gibt es für das SEM keine Möglichkeit, etwas an dieser Situation zu ändern.» Das SEM habe nicht bei Österreich interveniert und kommentiere auch die dortigen Bestimmungen nicht. Christian Gantner, Landrat im Vorarlberg, sagt: «Es ist uns nicht bekannt, dass über eine Ausnahmeklausel nachgedacht wird.»
Astrid Falk will derweil noch nicht aufgeben. Vielleicht werde sie mit einem Arztzeugnis der Mutter an die Grenze fahren, in der Hoffnung auf einen gutmütigen Zöllner. Ihre Gefühle hat sie als Gedicht aufgeschrieben: «Mutter, bitte stirb jetzt nicht, / du in der Heimat und ich hier, / auch wenns in deinem Herzen sticht, / ich kann jetzt nicht zu dir.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.