Neues Verkehrsregime im Zürcher Kreis 4Die Langstrasse ist für Autos unterbrochen – nicht alle halten sich daran
Manche Menschen haben 50 Jahre auf diesen Moment gewartet: Die Langstrasse ist jetzt eine Velo-Schnellstrasse – zumindest tagsüber. Ein Augenschein am ersten Tag.
Noch muss ein Verkehrsdienst dafür sorgen, dass alles gut kommt. Am Mittwochmorgen stehen zwei Männer mit gelben Westen auf der Langstrasse und weisen die Autofahrer und Töfffahrerinnen an, in die Brauerstrasse respektive Dienerstrasse einzubiegen. Die per Verkehrsschild nicht mehr Geduldeten müssen die Fahrt auf der Langstrasse abbrechen.
Bei einer Stippvisite der Redaktion war dies ungefähr alle zehn Sekunden der Fall. Gleichzeitig und innerlich wohl leicht triumphierend radeln die Velofahrerinnen an den Männern vorbei. Auch die Busfahrer, die auf der sanierten Strasse neuerdings ohne eigene Spur auskommen müssen, werden freundlich durchgewinkt.
Spätestens in zwei Wochen sollten sich die Motorisierten an die neue Verkehrsführung auf der Aussersihl-Seite der Langstrasse gewöhnt haben, heisst es bei der Stadt. Die Gelbwesten werden das Feld räumen, das neue Regime wird ganz den Verkehrsteilnehmenden überlassen.
60 Meter autofrei
Neu ist, dass der etwa 60 Meter lange Abschnitt zwischen der Brauer- und der Dienerstrasse tagsüber, genauer von 5.30 bis 22 Uhr, für die Autos und Motorräder gesperrt ist. Der Verkehr wird umgeleitet über die parallel zur Langstrasse verlaufenden Ankerstrasse und Kanonengasse. Die Kapazität bleibt erhalten.
Die Kanonengasse hat allerdings – nebst 22 Parkplätzen – ihren Velostreifen verloren, was in einschlägigen Kreisen zu einem Shitstorm geführt hat. Grund für die Streichung ist, dass es mehr Platz braucht für die Autos. An der Einmündung zur Lagerstrasse sind zwei Abbiegespuren markiert, damit es nicht zu Rückstaus kommt.
Um den Velostreifen zu erhalten, hätte die Stadt ein Stück Land kaufen müssen, doch das wurde vor ein paar Jahren verworfen. Während die Langstrasse also zum Veloparadies wird, mutiert die Kanonengasse zur Zweiradhölle, wobei findige Velopedaleure wohl schnell ihre Ausweichroute über die Militärstrasse finden werden.
Plötzlich Gegenverkehr
In der Nacht wiederum ändert sich das Bild komplett. Dann ist die Langstrasse offen für alle, in beiden Richtungen. Der Gegenverkehr ist neu, da bisher abgesehen vom Bus ein Einbahnregime in Richtung Bahngeleise galt. In den Nebenstrassen gilt das Nachtfahrverbot neu bis 5.30 statt bis 3 Uhr.
Dass der öffentliche Verkehr in Richtung Helvetiaplatz vor allem an den (Party-)Wochenenden mit entsprechendem Publikumsverkehr ab 22 Uhr im Stau stecken bleibt, befürchtet die Stadt nicht. Die Ampelphasen nach der Unterführung seien entsprechend eingestellt worden.
«Der Aufenthalt auf der Strasse wird angenehmer.»
Dass das Projekt «Autoarme Langstrasse» nach einer langen und wechselvollen Planung umgesetzt ist, markierte der Stadtrat am Mittwochnachmittag gleich mit zwei Mitgliedern vor Ort auf der Piazza Cella. Tiefbauvorsteherin Simone Brander (SP) sprach erfreut von mehr Lebensqualität an der Langstrasse: «Der Aufenthalt auf der Strasse wird angenehmer.» Und für die Velofahrenden ist sie durchgehend befahrbar.
Zum Projekt gehört auch, dass neu Tempo 30 gilt, der Trottoirabschnitt zwischen der Stauffacherstrasse und der Hohlstrasse verbreitert wurde und beim Coop 38 Veloparkplätze gebaut wurden. Noch im Herbst werden zudem sechs Bäume gesetzt.
Und weil an der Ankerstrasse und Kanonengasse der Verkehr und der Lärm zunehmen, wurde dort ebenfalls Tempo 30 eingeführt und ein Flüsterbelag eingebaut. Auch sind in den anliegenden Häusern Lärmschutzfenster installiert worden.
Vorstoss von 2003 wird umgesetzt
Dass Finanzvorsteher Daniel Leupi (Grüne) ebenfalls am kleinen Anlass auftrat, hat mit der sehr langen Historie des Projekts zu tun. Die ersten Bestrebungen, die Langstrasse vom Verkehr zu entlasten, datieren aus den 1970er-Jahren.
Etwas mehr Fahrt nahm das Vorhaben Ende der 90er auf. Interessanterweise wurde damals im Quartier aber befürchtet, dass ein Verbannen der Autos die Drogenkriminalität und das Milieu begünstigen könnten. 2003 forderten eine Pro-Velo-Petition mit 9000 Unterschriften und eine Gemeinderatsmotion vom damaligen Parlamentarier Leupi und dem CVP-Kollegen Robert Schönbächler eine autofreie Langstrasse.
Danach passierte aber sehr lange nichts Konkretes. Die Forderung traf auf divergierende Interessen und wurde von Schublade zu Schublade gereicht. Zögerliche Anläufe verschwanden immer wieder im Dickicht von Mitsprache, Einsprache und Prioritätenliste. Sinnbildlich dafür: Tempo 30 wurde 2015 rechtskräftig, wird aber erst jetzt eingeführt. Im Fokus stand inzwischen vermehrt die Langstrassenunterführung.
Ende 2020 wurde endlich Ernst gemacht. Der Stadtrat setzte das Projekt fest, das Parlament genehmigte den 5-Millionen-Kredit, zu dem bald darauf zusätzliche 3 Millionen Franken gesprochen wurden. «Es hat schon etwas Schnauf gebraucht», bilanzierte Leupi.
Verhaftungsaktion kurz nach Anlass
Kaum war die Veranstaltung am Mittwochnachmittag beendet, zeigte sich, dass die Langstrasse die Langstrasse bleibt: Ein Auto mit Schwyzer Nummer missachtet das Fahrverbot, taucht plötzlich in der 60-Meter-Sperrzone auf und wird von den Ordnern zurück zur Brauerstrasse begleitet und weggewiesen.
Und kurz darauf biegt ein Kastenwagen der Stadtpolizei in den Abschnitt ein und hält an. Zwei Polizisten stürmen aus dem Fahrzeug und legen einem Mann, vielleicht einem Drogendealer, die Handschellen an.
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