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Israel forciert Bautätigkeit
Neue Strassen bringen neue Siedler ins Westjordanland

Soldaten gehen gegen Palästinenser vor, die im Westjordanland gegen den israelischen Siedlungsbau protestieren.  
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Aufgerissene Erde, feucht und von Steinbrocken durchsetzt. Dunkle Löcher, die für den Tunnelbau in den Fels gehauen werden. Brücken, die halb fertig ins Leere ragen. Überall in dem von Israel besetzten palästinensischen Westjordanland kann man derzeit mächtige Baustellen sehen. Strassen werden ausgebaut oder gleich ganz neu durch die Landschaft gezogen.

Wer mit Yehuda Shaul, dem Gründer der israelischen Menschenrechtsorganisation Breaking the Silence durchs Westjordanland fährt, der kann anhand all der Bauarbeiten schon einmal einen Blick in die Zukunft des israelischen Siedlungsbauprojekts werfen. «Der Ausbau bemisst sich nicht nur in der Zahl der neu gebauten Wohnungen», sagt Shaul. «Genauso wichtig ist die Infrastruktur. Von den Strassen über Strom, Wasser und Abwasser bis hin zu den Masten für den Mobilfunk. Daran sieht man, wie viele Siedler hier bald leben sollen.»

«Autobahn zur Annexion»

Das Thema birgt reichlich Konfliktpotenzial – vor allem mit der neuen US-Regierung unter Joe Biden. Anders als sein Vorgänger Donald Trump sieht er im Siedlungsbau ein Hindernis auf dem Weg zu einem friedlichen Ausgleich mit den Palästinensern. Doch Israels Regierung macht keine Anstalten, den Kurs zu korrigieren. Im Gegenteil: Pünktlich zur Amtseinführung Bidens wurden diese Woche mehr als 2500 neue Siedlerwohnungen ausgeschrieben. 800 weitere waren schon in der vorigen Woche angeboten worden.

Die Grundlagen für einen neuen Boom beim Siedlungsbau, nämlich den ambitionierten Ausbau des Strassennetzes in den besetzten Gebieten, hat Yehuda Shaul in einer etwa 40-seitigen Untersuchung zusammengefasst. «Autobahn zur Annexion», lautet der Titel des Reports, der kilometerweise Belege dafür sammelt, dass Israel seinen Zugriff aufs Westjordanland weiter verstärkt.

Die in Trumps sogenanntem Friedensplan vorgesehene Annexion von bis zu 30 Prozent des Westjordanlands mag zwar – als Gegenleistung für eine Normalisierung der Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten – eingefroren worden sein. Doch was in der Praxis passiert, ist für Shaul nichts anderes als eine «De-facto-Annexion in grossem Stil».

Der letzte umfassende israelische Strassenbauplan rund um die Siedlungen im Westjordanland stammt aus den Neunzigerjahren. Seither hat sich die Zahl der Siedler dort fast verdreifacht, von etwa 150’000 auf nunmehr 440’000. Dazu kommen noch einmal etwa 200’000 Israelis, die im arabischen Ostteil von Jerusalem angesiedelt wurden. Für sie alle sind die Strassen längst zu eng geworden.

«Wir nehmen unseren Fuss nicht vom Gas, wir setzen auf eine De-facto-Souveränität.»

Israels Verkehrsministerin Miri Regev

Die Siedler machen schon lange Druck auf die Regierung in Jerusalem, die Infrastruktur zu verbessern. 2017 hat es deshalb sogar einen Hungerstreik von Siedlerführern vor der Residenz von Premierminister Benjamin Netanyahu gegeben. Am Ende des Protests sagte der Regierungschef zu, 200 Millionen Schekel, umgerechnet etwa 54 Millionen Euro, sofort zu investieren und 600 Millionen zu einem späteren Zeitpunkt.

Nun treibt die israelische Regierung die Pläne in grossem Umfang voran. Verkehrsministerin Miri Regev aus Netanyahus Likud-Partei verkündete Anfang Dezember in einer Presseerklärung, dass jetzt mehrere Strassenbauprojekte angegangen würden, mit denen die weitere Entwicklung der Siedlungen gefördert werde. «Wir nehmen unseren Fuss nicht vom Gas», erklärte sie, «wir setzen auf eine De-facto-Souveränität.» Die neuen Projekte seien Teil eines «strategischen Masterplans».

Dank guter Anbindung faktisch ein Vorort von Jerusalem: Eine israelische Siedlung im Westjordanland.   

Grundsätzlich stehen die neuen Strassen auch den Palästinensern offen. Doch Yehuda Shauls Recherchen zufolge sind die meisten Aus- und Neubauten für sie nur von geringem Nutzen. Denn das eindeutige Ziel der Baumassnahmen sei es, schneller vom Westjordanland aus in die Metropolen Jerusalem oder Tel Aviv zu gelangen. Palästinenser aber dürfen ohne Sondergenehmigung nicht nach Israel einreisen. Die Siedler dagegen, von denen etwa 60 Prozent im israelischen Kernland arbeiten, dürften so ihre täglichen Pendelfahrten deutlich verkürzen.

Zudem sind ein Teil der neu geplanten Strecken sogenannte Bypass-Strassen, mit denen palästinensische Ortschaften umfahren werden. Das verhindert nicht nur die heute noch üblichen Staus auf engen Dorfstrassen, sondern erhöht vor allem auch die Sicherheit der Siedler vor Übergriffen. «So können sie sich im Westjordanland noch mehr als bisher wie zu Hause fühlen», sagt Shaul. «Suburbanisierung» nennt er das: Die Siedlungen würden dank der Strassenverbindungen zumindest gefühlt immer mehr zu Vororten von Jerusalem oder Tel Aviv.

Die «Vororte» wachsen rasant

In diesen «Vororten» sei dann mit einem raschen Wachstum zu rechnen. «Neue Strassen bringen neue Bewohner in die Siedlungen», sagt Shaul. Als Beispiel nennt er die sogenannte Lieberman Road, benannt nach dem früheren Minister Avigdor Lieberman, der in einer Siedlung im südlichen Teil des Westjordanlands lebt. Die dort vor zehn Jahren nach Jerusalem gebaute Strasse verkürzt die Fahrtzeit erheblich. Die Folge: Die Zahl der Siedler dort hat sich seither verdoppelt.

Mit dem neuen Masterplan sind deshalb im Lager der Siedler grosse Hoffnungen verbunden. Schon in 15 bis 20 Jahren, so erklären ihre Vertreter, sollen eine Million israelische Siedler im Westjordanland leben. Die Gründung eines Palästinenserstaats würde das in noch weitere Ferne rücken.

Yehuda Shaul hofft deshalb, dass nicht nur die regelmässige Ankündigung neuer Siedlerbauten, sondern auch die von ihm dokumentierten Strassenbauprojekte die internationale Gemeinschaft aufrütteln. «Hier wird der Grundstein gelegt für die Entwicklung der Siedlungen in den kommenden 20 Jahren», sagt er. «Aber Joe Biden und die EU könnten das noch stoppen.»