Was wir lesenMohamed Mbougar Sarr: «Die geheimste Erinnerung der Menschen»
Auf einer Recherche durch Senegal schleppte unsere Autorin dieses dicke Buch mit. Und fand darin eine Art Glaubenssatz.
Reise ich in ein fremdes Land, lese ich gerne einen Roman von da, denn Literatur hilft mir dabei, ein Gefühl für einen Ort zu bekommen. Auf einer Recherche durch Senegal schleppte ich ein dickes Buch mit, es trägt den Titel «La plus secrète mémoire des hommes» oder auf Deutsch «Die geheimste Erinnerung der Menschen». Geschrieben hat es Mohamed Mbougar Sarr.
Der Autor wurde in Frankreich gefeiert und mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. In seiner Heimat sorgte er für Aufregung. Aber nicht auf die gute Art, wie mir Jacques erzählte, ein Fotograf. Sarr sei stark angefeindet worden, wegen einer schwulen Figur aus einer früheren Geschichte, und weil im aktuellen Roman so viel Sex und Marihuana vorkommen. Jacques lachte über meinen erstaunten Gesichtsausdruck. Wir waren uns einig, dass auch die Art und Weise, wie über Literatur diskutiert wird, einiges über ein Land aussagt.
An dieser Stelle müsste ich wohl erklären, worum es im Buch geht, aber laut Sarrs Erzähler verkörpert diese Frage «das abgrundtief Böse in der Literatur». Es passiert zwar viel, aber es wird auch viel nachgedacht. Unter anderem über das Schreiben an sich. Darum nur so viel: Ein Schriftsteller jagt einem anderen Schriftsteller nach, Menschen verlieben sich, Menschen sterben, und der eurozentristische Literaturbetrieb wird hinterfragt. Es ist grossartig.
Für mich wird «Die geheimste Erinnerung der Menschen» immer mit dem Geruch von Antibrumm und der lauten Geschäftigkeit von Dakar in Erinnerung bleiben. Die Hauptstadt von Senegal ist so einnehmend, dass sie auch nachts ungebeten in jedes Zimmer eindringt. So kam es, dass ich manchmal lange wach lag und Sätze wie diesen las: «Ich spürte ringsum eine chaotische und übermütige, wilde und schöne Energie, die einen vollkommen aufzehren oder einen Toten zum Leben erwecken konnte.»
Ich bin auf den 460 Seiten Senegal näher gekommen und hab mich gleichzeitig davon entfernt. Es ging mir wie dem Erzähler, der sich ebenfalls auf einer Art Recherchetrip befindet und feststellen muss: «Je mehr wir über einen kleinen Teil der Welt erfahren, desto eher erkennen wir, wie unermesslich das Unbekannte und unsere Unwissenheit sind.» Ich habe mir den Satz auf ein Post-it notiert und an meinen Laptop geklebt. Als Journalistin ist er für mich zu einer Art Glaubenssatz geworden.
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