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Meinung

Kommentar zu den Niederlanden
Mit Rutte ist kein Staat mehr zu machen

Im niederländischen Parlament wurde Premier Mark Rutte (M.) scharf angegriffen. Doch er liess alle Vorwürfe an sich abperlen.
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Im Ausland wird die niederländische Politik notorisch wenig beachtet. Kaum ein Medium leistet sich noch Korrespondenten dort, hingeschaut wird allenfalls, wenn mal wieder ein verrückter Rechtspopulist die Macht zu übernehmen droht. Schade, denn gerade geschieht Ungeheuerliches in Den Haag. Die politischen Fundamente wackeln, alles steht plötzlich infrage und eine monatelange Regierungs-, wenn nicht gar Staatskrise ins Haus.

Immer neue Affären erschüttern das Land: Premier Mark Rutte wurde beim Lügen ertappt, das Kabinett bei Vertuschungen. Beides hängt mit der Kinderzuschlag-Affäre zusammen, einem monumentalen Staatsversagen: Jahrelang forderten die Steuerbehörden von bis zu 30’000 Familien zu Unrecht Geld zurück. Viele Betroffene, meist mit Migrationshintergrund, gerieten in Not und wurden nicht zuletzt auf übelste Weise diskriminiert. Doch statt den Opfern zu helfen und sie zu entschädigen, war die Regierung vor allem damit beschäftigt, den Schaden von sich selbst abzuwenden. Wie Kabinettsmitschriften zeigen, die nach einem Leak veröffentlicht wurden, dachten Rutte und seine Minister über Monate hinweg fast nur daran, wie sie peinliche Informationen unter den Teppich kehren und lästige Aufklärer aus dem Parlament zum Schweigen bringen konnten.

Rutte liess mutmasslichen Sozialbetrug rigoros bekämpfen

Der Vorgang und die bisher eher hilflosen und schwachen Reaktionen darauf offenbaren eine politische Krise, die wahrscheinlich tiefer reicht, als vielen in Den Haag bewusst ist. Es ist eine Vertrauenskrise, die alle Säulen des Gemeinwesens untergräbt: Exekutive, Judikative, Legislative – und leider auch die Medien.

Rutte selbst steht an der Spitze des Problems. Schon vor seiner Amtsübernahme 2010, noch als Staatssekretär, hatte er die Devise ausgegeben, mutmasslichen Sozialbetrug durch Migranten mit rigorosesten Mitteln zu bekämpfen. Das Parlament machte mit, die Verwaltung zog die Vorgaben gnadenlos durch; erst nach Jahren muckte ein Beamter auf – und wurde gleich entlassen. Von der Justiz bekamen die Opfer auch keine Hilfe, sie verwies bis in die höchste Instanz auf das geltende Recht. Die Regierungsparteien stützten Ruttes Tun fast blind, entschuldigten offensichtlichen Rechtsbruch und zuletzt sogar eklatante Unwahrheiten des Premierministers.

Und die Medien? Sind Teil des Problems. Sicher, sie haben manches ausgegraben. Doch ein Aufschrei blieb aus. Niemand traut sich, der Sache auf den Grund zu gehen und die Verantwortlichen hart zu attackieren. Man kennt sich in Den Haag, hinzu kommt die chronische Konsenssucht in den Niederlanden. Bloss niemandem wehtun.

Die Angst vor Neuwahlen und politischen Verwerfungen dominiert

Wegen des Kinderzuschlag-Skandals trat das Kabinett Rutte schon im Januar zurück, es ist nur geschäftsführend im Amt. Doch Rutte selbst machte ungerührt weiter. Im März, vor der aktuellen Affärenserie, siegte er bei der Parlamentswahl. Vor vier Wochen überlebte er ein Misstrauensvotum nur knapp. Zuletzt war der ganze Schlamassel abermals Thema einer hitzigen Debatte im Parlament. Rutte agierte auf typische Weise: Er signalisierte Zerknirschung und Empathie und gelobte, künftig alles besser zu machen. Dass er an sich und seiner Art zu regieren etwas ändert, ist allerdings nicht zu erwarten.

Und dennoch scheint es ihm, wieder einmal, gelungen zu sein, die grösste Empörung zu besänftigen. Die Angst vor Neuwahlen und grösseren politischen Verwerfungen dominiert, die Reihen werden geschlossen, und Mitteparteien wie Grüne und Sozialdemokraten wollen sich den Weg zur Macht nicht durch anhaltende Widerborstigkeit selbst blockieren.

Für die politische Kultur der Niederlande ist diese Nachsichtigkeit fatal. Es wurde nicht mehr als ein kleines Pflaster auf eine riesige Wunde geklebt. Auf diese Weise wird es nicht gelingen, das verlorene Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Die Politik in Den Haag braucht einen Neuanfang. Ohne Rutte.