Mit der Familie auf dem Hausboot Und plötzlich wird die Schleuse zum Abenteuer
Ein Kurzurlaub auf dem Hausboot im Elsass verspricht einiges an Spektakel. Und Begegnungen mit einem Paar, das auf einem ehemaligen Kartoffelkahn lebt.
Der Schrei hallt durch den ganzen Tunnel. Die Kinder kreischen.
Es ist passiert, wovor wir uns gefürchtet haben: Das Hausboot hat die Tunnelwand touchiert. Wir haben den geringen Abstand zwischen Kahn und Stein ausgereizt, prallen ab und driften direkt Richtung andere Tunnelwand. Kein noch so konzentriertes Gegensteuern mit dem Seitenruder nützt. Hilfe. Schweissausbruch.
Wir müssen eingestehen: Das haben wir uns anders vorgestellt. Von wegen locker eine Hand am Steuer, in der anderen ein alkoholfreies Bier der Elsässer Brauerei Meteor und dazu unbekümmert durchs Elsass schippern! Das Lenken eines solchen Kolosses ist eine wahre Herkulesaufgabe.
Ausgangspunkt unserer Reise ist das verschlafene Kleindorf Hesse zwischen Strasbourg und Nancy. Es hat nicht viel zu bieten, den Grosseinkauf für den Bootstrip müssen wir im nächsten Dorf erledigen. Deshalb ist die Hausboot-Basis von Le Boat eine willkommene Arbeitgeberin im Dorf. Von hier aus lässt sich der Rhein-Marne-Kanal bis zu beiden Grossstädten und nach Norden bis nach Saarbrücken befahren.
Die Einführung in das neue Gefährt Typ Calypso ist rudimentär, für das, was uns erwartet. 13 Meter lang, 4 Meter breit und Platz für bis zu acht Personen. Einen Bootsführerschein braucht es dafür nicht, ein 30-minütiger Crashkurs mit dem Personal am Steuerrad und ein kurzes Manöver im grosszügigen Hafen genügen – und Schiff ahoi! Die eigenen Velos inklusive.
Wir wählen die Route nach Osten, weil man uns da «einige Attraktionen» verspricht. Noch wissen wir nicht, wie träge das über vier Tonnen schwere Schiff reagieren wird. Und warum zwingend zwei Erwachsene an Bord sein müssen.
Camper-Feeling auf dem Wasser
Vorerst überwiegt das Glücksgefühl. Den Alltag lassen wir im Schritttempo tuckernd hinter uns und bestaunen die einsamen Felder und Wiesen entlang des Kanals.
Der 1853 eröffnete Rhein-Marne-Kanal hat 154 Schleusen und zählt mit 293 Kilometern Länge zu den längsten Kanälen Frankreichs. Bis 1930 zogen Pferde die Schiffe vom Treidelpfad an Land aus (oder eben: sie treidelten). Danach übernahmen elektrisch betriebene Zugmaschinen auf Schienen die Arbeit. Heute wird der Kanal nur noch für den Wassersport und für den Hausboot-Tourismus genutzt – Baden ist allerdings verboten.
Am ersten Abend legen wir im Hafen von Niderviller an – und benötigen dafür mehrere Versuche. Lächelnd fragt die Hafenwartin beim Begleichen der Gebühr: «Premier jour, n’est-ce pas?» Der Mietgrill tut seinen Dienst, und die schöne Abendstimmung auf dem Deck verfeinert das Abendessen. Von der einen Seite hören wir Seniorenpaare schallend lachen, von der anderen Seite Gezänk um den Abwasch einer Schweizer Familie. Willkommen auf dem «Wasser-Camping».
Die zweite Etappe beginnt, wie die erste geendet hat: gemütlich. Doch nicht lange. Hinter einer Kurve verschwindet der Kanal plötzlich im dunklen Nichts eines Tunnels. Wir drosseln den Motor, die Ampel wechselt auf Grün. 475 Meter Dunkelheit, seitlich knapp einen halben Meter Platz. Wir schaffens ohne Zwischenfall. Aber gleich danach folgt ein zweiter, fünfmal so langer Tunnel, heisst eine knappe halbe Stunde Fahrzeit.
Und eben da passiert das Malheur.
Ein einmaliger Lift
Danach muss der Ersatzkapitän ablösen, und das nächste Abenteuer wartet schon. Hinter dem Tunnel liegt das Schiffshebewerk zwischen St. Louis und Arzviller, eines von drei seiner Art weltweit. Die gigantische Schrägliftanlage ging 1969 in Betrieb und ersetzte die frühere Schleusentreppe mit 17 Anlagen.
So brauchten die Lastkapitäne einst einen ganzen Tag, um die Höhendifferenz von fast 45 Metern zu überwinden. Heute dauert die Fahrt 20 Minuten, pro Tag und Richtung kann die Anlage rund 40 Schiffe befördern. Kern der Anlage ist ein 900 Tonnen schwerer, mit Wasser gefüllter Trog, der mit zwei Gegengewichten ausbalanciert wird.
Langsam fahren wir ein. Für unsere Talfahrt wird der Trog mit zusätzlichem Wasser gefüllt, bis er schwerer ist als die Gegengewichte. Und bei einer Bergfahrt würde aus dem Trog Wasser abgelassen. Uns winken Dutzende Schaulustige zu, als wir langsam in die Tiefe hinabgleiten. Der Blick hinauf erzeugt ein mulmiges Gefühl. Was, wenn die Kräfte nachgeben? Wasser ausläuft?
Nach einem Unfall mit einem Ausflugsboot 2013 lief tatsächlich Wasser aus. Die Talortschaft Lutzelburg wurde vorsichtshalber evakuiert. Danach blieb die Anlage zwei Jahre geschlossen. Personen kamen nicht zu Schaden.
Schleusenhilfe fährt heran
In ebendiesem Lutzelbourg wartet bereits die nächste Prüfung auf uns – die erste Durchfahrt einer Schleuse. Alle müssen mit anpacken. An Land klettern, Tau befestigen und halten. Einfach sei die Bedienung heutzutage, hiess es an der Basis. Man müsse nur die Stange ziehen – und alles funktioniere automatisch. Doch so stark wir auch am Metall rütteln, die Anlage macht keinen Wank.
Die per Schleusen-Telefon anvisierte Wärterin braust Minuten später mit dem Peugeot heran. «Pas de problème», sagt sie scheinbar gewohnt und hilft uns, das Boot das erste Mal an den Taus durch die Schleuse zu lenken. Zum Glück sind da zehn Hände, die zupacken können.
11 Schleusen später ankern wir vor der Kleinstadt Saverne auf einem der unzähligen kostenlosen Anlegeplätze entlang des Kanals. Mehr als eine Tagesreise haben wir für die 30 Kilometer gebraucht. Doch es hat sich gelohnt.
Saverne entzückt – frisch und stilvoll wirkt die Kleinstadt. Bei Picon (Orangenaperitif mit Bier), Flammkuchen und Livemusik lassen wir die Weite des Hauptplatzes vor dem Rohan-Schloss auf uns wirken. Gleichzeitig bedauern wir, dass am Tag danach bereits die Rückfahrt ansteht. Wir haben die Calypso lieb gewonnen, auch wenn sie zuweilen etwas störrisch ist.
150 Kilometer pro Woche
Dass es auf diesem Fluss auch wahre Könner gibt, zeigt sich am nächsten Tag. Auf halben Weg zurück nach Lutzelbourg müssen wir vor einer Schleuse zum Warten anlegen. Vor uns ein mächtiger Kahn mit dem klingenden Namen Nilaya. Wir sind beeindruckt von der gekonnten Restaurierung des Lastschiffs samt üppigem Salat- und Kräutergarten auf dem Oberdeck.
Bald kommen wir mit Eigner Kevin ins Gespräch. Der Brite hat das 101-jährige Schiff, auf dem einst Kartoffeln transportiert wurden, vor über 20 Jahren erstanden. Nach der Restauration lebte er mehrere Jahre darauf. Heute beherbergt er auf dem Schiff zusammen mit seiner belgischen Partnerin Isabelle Gäste und fährt sie durch das französische Kanalsystem – rund 150 Kilometer und 45 Schleusen pro Woche ist ihr Schnitt.
Ob denn der Kahn nicht schwierig zu steuern sei, wollen wir wissen. «Und wie, und alles ohne Seitenruder», sagt er. Sein Tipp: «Weit nach vorne schauen hilft.»
Ganz Touristenführer, gibt er uns weitere Tipps: Die Burg oberhalb von Lutzelbourg sei ein Abstecher wert, ebenso das Essen auf dem Camping im gleichen Dorf. Und falls die Kinder heiss hätten, gäbe es da auch einen Pool.
Also schippern wir zurück nach Lutzelbourg. Für die Nacht ankern wir in der Nähe des besagten Campings unterhalb des Schiffshebewerks, denn wir wollen in der Früh die Ersten auf dem Lift sein. Statt der Burg statten wir der Glasmanufaktur einen Besuch ab. Das Camping-Programm passt.
Frühmorgens nach dem Lift passieren wir die Tunnels und erinnern uns an Kevins Rat. Mit Erfolg. Die Kinder kreischen wieder, dieses Mal vor Freude: Diese Ferien seien einfach fantastisch, meinen sie unisono.
Die Reise wurde unterstützt von Le Boat und railtour suisse sa.
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