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Interview über Antisemitismus 
«Mit Codes versuchen sie, ihren Hass gegen Juden zu verdecken»

Cyril Lilienfeld vom Israelitischen Gemeindebund (SIG).
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Herr Lilienfeld, Sie untersuchen in Ihrer Arbeit für den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund antisemitische Codes. Worum handelt es sich dabei?

Es gibt verschiedene Arten von Codes, zum Beispiel Zahlencodes, die man in allen Szenen kennt. Bestes Beispiel dafür ist die Zahl 88, die bedeutet: «Heil Hitler». Die meisten Zahlencodes sind relativ einfach: Der achte Buchstabe des Alphabets ist das H; die 88 steht somit für HH.

Allerdings kann die 88 auch andere Bedeutungen haben …

Der Kontext ist immer wichtig. In den USA ist die 88 in der Hip-Hop-Szene verbreitet, denn HH bedeutet auch Hip-Hop. Oder: Einem bekannten Youtuber wurde einmal Sympathie für Nazis vorgeworfen, weil er in seinem Usernamen die 88 verwendet, dabei ist das einfach sein Jahrgang.

Welche Art von Codes gibt es noch im antisemitischen Kontext?

Neben Zahlen gibt es zum Beispiel auch eine Reihe von Codewörtern für Jüdinnen und Juden. Zum Beispiel Zionisten, Globalisten, Finanzelite. Oder man spricht von «den Rothschilds». Auch hier ist der Kontext wichtig. Wenn jemand sagt, Zionisten würden Palästinenser bekämpfen, so sind die Israelis gemeint. Aber wenn das Wort Zionisten völlig ohne Israelbezug auftaucht, sind meist Jüdinnen und Juden gemeint.

Können Sie vielleicht einen dieser Codes erklären, zum Beispiel die Rothschilds?

Das ist eine jüdische Bankiersfamilie, ursprünglich aus Frankfurt, die seit ungefähr 230 Jahren im Bankengeschäft tätig ist. Viele Mythen ranken sich um sie, und Verschwörungstheoretiker glauben, die Rothschilds würden immer beide Seiten in Kriegen finanzieren und fast alle Banken und Medienhäuser der Welt kontrollieren. Die Rothschilds als Codewort für «der Jude kontrolliert und besitzt alles» gibt es schon lange.

Warum werden solche Codes verwendet?

Es geht darum, Vorwürfen von Antisemitismus und einer Strafverfolgung zu entgehen, zugleich aber eine antisemitische Gesinnung propagieren zu können. Und zwar mit dem sogenannten Dog-Whistling: Das heisst, ich sage etwas, was die meisten Leute nicht verstehen, aber meine Leute wissen, was ich meine. Es sind also Aussagen mit versteckten Botschaften, deren Bedeutung nur denjenigen klar wird, die das «entsprechende Gehör» haben. Mit solchen Codes versuchen sie, ihren Hass gegen Juden zu verdecken.

Gibt es Codes, die sich mit der Zeit gewandelt haben?

Bis vor etwa 10 Jahren war das Wort «Globalist» fast ausschliesslich ein Code für Juden und Jüdinnen. Dahinter steckt der verbreitete Vorwurf, dass Juden und Jüdinnen sich eigentlich keiner Nationalität, sondern nur der jüdischen Sache verpflichtet fühlten und die Weltherrschaft an sich reissen wollten. Besonders in den letzten drei Jahren haben wir im Zuge der Corona-Krise beobachtet, dass auch Personen wie Bill Gates oder WEF-Gründer Klaus Schwab als Globalisten bezeichnet werden, die aber nicht jüdisch sind.

Gibt es Codes, die neu entstanden sind?

Ein Code, der zurzeit sehr beliebt ist: der Begriff «Chasaren» oder «die chasarische Mafia». Historisch gesehen waren die Chasaren ein nomadisches Turkvolk, das im 7. Jahrhundert im Nordkaukasus ein Reich gründete und später zum Judentum konvertierte. Warum die Chasaren das Judentum annahmen, ist nicht klar. Wahrscheinlich, weil sie an der Schnittstelle zwischen Muslimen und Christen neutral sein wollten. Das Reich wurde 970 nach Christus von der Kiewer Rus, also dem Vorläuferstaat des heutigen Russland, zerstört. Es gibt nun Verschwörungstheorien, die besagen, dass die Überlebenden sich auf Osteuropa verteilten und so zu den Vorfahren der aschkenasischen Juden und Jüdinnen wurden. Die Theorie will Israel delegitimieren, wenn nämlich die «Aschkenasim» nicht von den ursprünglichen Israeliten abstammten, hätten sie auch kein Recht, sich heute in Israel niederzulassen. Mit der Zeit wurde die Theorie weiter ausgebaut, die Chasaren hätten eine Art Teufel angebetet und ihm kleine Kinder geopfert. Beides alte antisemitische Vorwürfe.

Warum findet diese Chasaren-Theorie derzeit so viel Anklang?

Das hat verschiedene Gründe. Den «bösen Mächten», die hinter allem Schlechten der letzten Jahre stehen sollen, werden seit längerem Satanismus und Pädophilie unterstellt. Zudem lag ein Teil des Chasarenreichs peripher auf dem Gebiet der heutigen Ostukraine. Es seien erneut die Russen, die gegen die Auferstehung dieses angeblichen «Reichs des Bösen» vorgehen, was sich mit der Zerstörung des tatsächlichen Chasarenreichs durch die Kiewer Rus deckt.

Dieser Code setzt ein gewisses Geschichtswissen voraus, funktioniert das in den Telegram-Chats?

Ich denke nicht, dass die genaue Bedeutung hinter dem Begriff «Chasaren» einem grossen Teil der Menschen in diesem Umfeld bekannt ist. Manchmal wird diese Theorie in langen Abschnitten in den Chats ausformuliert. Die Frage ist aber, ob dies auch genau gelesen wird. Es fällt jedenfalls auf, dass der Chasaren-Begriff DAS neue Codewort für Jüdinnen und Juden ist und relativ häufig vorkommt. Vor drei Jahren war das noch sehr selten zu lesen.

Was passiert, wenn Sie in einem Beitrag einen solchen Code entdecken?

Wenn wir alles melden und immer eine Anzeige machen würden, dann wären wir damit voll ausgelastet. Ausserdem sind die meisten dieser Vorfälle wohl nicht strafbar, eben weil diese Codes einen gewissen Schutz bieten und die User oft auch anonym unterwegs sind. Dazu kommt: Der Messengerdienst Telegram, aus dem die meisten der registrierten Vorfälle stammen, hat seinen Sitz in Dubai, kooperiert nicht mit Strafverfolgungsbehörden und lehnt alle Anfragen von Staaten ab. Telegram wurde ursprünglich auch gegründet, damit Menschen geschützt vor staatlicher Verfolgung kommunizieren können. Nur lief die Sache in eine andere Richtung als gedacht.

Was sind es für Leute, die mit solchen Codes in den Telegram-Chats auffallen?

Seit der Corona-Krise hat sich eine staatsfeindliche und verschwörungsaffine Subkultur gebildet. Viele von ihnen waren Massnahmengegner während Corona, die immer radikaler wurden. Wer diese Leute sind, ist allerdings unklar, weil sie grösstenteils nicht mit ihrem echten Namen agieren und kein Profilbild haben. Diese Szene folgt auch nicht dem klassischen Links-rechts-Schema, die Leute kommen sowohl aus der linksesoterischen als auch der rechtsextremen oder anarchistischen Ecke. Es gibt auch viele Personen, die vormals apolitisch waren – jeweils verteilt über alle Generationen.

Stellen Sie bei antisemitischen Vorfällen eine Neuartigkeit fest? Oder wie erklären Sie die leichte Zunahme?

Vor Corona hatten wir einzelne Trigger, die während zweier bis dreier Tage zu antisemitischen Vorfällen führten, zum Beispiel einen allgemeinen Zeitungsbericht über die jüdische Gemeinschaft, einen Nazi-Gerichtsfall oder ein Ereignis im Nahen Osten. Die Leute gingen meistens nicht einfach so auf Facebook und schrieben antisemitische Posts, sondern benötigten eben einen solchen Trigger dazu. Heute ist das anders. Durch Corona und den Ukraine-Krieg haben wir sehr langfristige Trigger, und die Vorfälle geschehen durchgehend. Das ist eine neue Beobachtung.

Sind Sie beunruhigt?

Die Zunahme bei den Vorfällen in der realen Welt ist zwar gering, aber wenn man die letzten fünf Jahre anschaut, sieht man, dass die Kurve immer ein wenig aufwärts zeigt, dass also die Zahl von antisemitischen Vorfällen jedes Jahr etwas steigt. In der «realen» Welt ist Zivilcourage gefragt, wenn jemand Zeuge oder Zeugin wird von Beschimpfungen oder antisemitischen Witzen. Und auch im Onlinebereich müssen wir die Hassrede ernst nehmen, denn wir wissen, dass auf Worte Taten folgen können. In den Kommentarspalten von klassischen Medien hat sich in den letzten vier Jahren einiges verbessert, weil die Nachrichten besser moderiert werden und bei heiklen Berichten die Kommentarfunktion gesperrt wird.