Selbsthilfe in KrisenzeitenMit Achtsamkeit zu mehr innerer Ruhe
Die Corona-Pandemie bringt viele an ihre psychische Belastungsgrenze. Mit speziellen Meditationstechniken lässt sich aber dort Ruhe finden, wo wir es am nötigsten haben: in uns selbst.
Nachdem sich Lisa Zimmermann (Name geändert) endlich von ihrem langjährigen Freund getrennt hatte, fiel sie in ein tiefes Loch. Acht Jahre war sie in dieser Beziehung, die ihr «alles andere als gutgetan hat», wie sie sagt. Und nach der Trennung kam auch noch die Pandemie. All das schlug der 53-jährigen Frau dermassen aufs Gemüt, dass sie psychologische Hilfe aufsuchen musste.
«Die Psychologin hat mir dann empfohlen, dass ich es mit Achtsamkeitstraining probieren sollte», sagt Zimmermann. Also habe sie sich an einem sogenannten Mindfulness-Based-Stress-Reduction-Kurs (MBSR) angemeldet, einem speziellen Meditationsprogramm. «Am Anfang war es hart. Es kamen in der Meditation und während der Übungen viele Emotionen und Gedanken hoch. Doch mit der Zeit lernte ich, eine gewisse Distanz zu ihnen zu bekommen», sagt Zimmermann. «Wir lernten, unsere Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken wahrzunehmen, sie zu beobachten, jedoch nicht in ihnen zu versinken.»
Schon nach dem achtwöchigen Kurs sei es ihr massiv besser gegangen. Die Achtsamkeitspraxis helfe ihr sehr viel, auch im täglichen Leben, sagt sie.
Ursprünglich aus dem Buddhismus
Achtsamkeit – im Englischen «Mindfulness» genannt – wird schon seit Jahrtausenden in verschiedenen Formen in der östlichen Welt praktiziert, insbesondere im Buddhismus. Mittlerweile ist sie auch in der westlichen Welt angekommen. Kein Wunder, ist sie ein Mittel, um in der aufgeregten und stressigen Zeit des 21. Jahrhunderts Inseln der inneren Ruhe zu finden. Vor allem in der Pandemie scheinen viele Menschen dort Zuflucht suchen zu wollen – viele Meditationskurse sind bereits Wochen im Voraus ausgebucht.
Doch was macht Achtsamkeit gerade in Krisen so attraktiv? Einer, der schon in den 1960er-Jahren entdeckt hat, wie mächtig Meditation sein kann, ist der Amerikaner Jon Kabat-Zinn. Der heute 77-jährige Molekularbiologe bemerkte, dass durch Meditation nicht nur innere Ruhe einkehrt, sondern dass man auch besser mit psychischen und physischen Schmerzen umgehen kann.
Zinn gründete daraufhin ein Behandlungszentrum, in dem er seine MBSR-Therapien in 8-Wochen-Kursen anbot. Mittlerweile ist Zinn zu einem Weltstar der Meditationsbewegung geworden. Millionen Menschen haben seinen 8-Wochen-Kurs absolviert.
«Zermahlen zwischen Beruf und Familie»
Auch Ursula Frischknecht-Tobler, Präsidentin des Schweizer MBSR-Verbands, fing vor mehr als 30 Jahren mit Achtsamkeitspraxis an, um ihren Alltag besser bewältigen zu können. «Ich fühlte mich zermahlen zwischen Beruf und Familie. Auf der Suche nach Erholung bin ich auf Meditation und später auf MBSR gestossen», erzählt sie. Nach einiger Zeit habe sie gemerkt, wie sich die Effekte in ihrem Alltag zeigten. «Ich war ruhiger mit den Kindern, weil ich nicht im Stress gefangen war.»
Laut Frischknecht geht es bei MBSR darum, Raum zu seinen Gedanken und Gefühlen zu schaffen und präsent die Gegenwart zu erleben. «Unser Verstand wandert mit seinen Gedanken oft entweder in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Dadurch nehmen wir gar nicht richtig bewusst wahr, was in der Gegenwart passiert.»
Damit man in der Gegenwart sein kann, müsse man lernen, die Gedanken an die Vergangenheit und an die Zukunft loszulassen. «Genau das üben wir in der Meditation.» Das brauche allerdings nicht nur Geduld, sondern auch Disziplin. «Man muss dranbleiben. Es ist wie beim Sporttraining, die Achtsamkeit ist sozusagen ein Muskel, der sich aufbaut, aber genauso rasch wieder degeneriert», sagt Frischknecht. Denn am Anfang sei es schwer, die Gedanken im Zaum zu halten. «Sie galoppieren immer wieder davon. Man muss sie erkennen, loslassen und dann in die Gegenwart zurückkehren.»
«Das Ein- und Ausatmen ist wie ein Anker, zu dem wir immer wieder zurückfinden können, wenn wir abgelenkt sind.»
Als wichtiges Hilfsmittel für diesen Prozess diene der Atem. «Das Ein- und Ausatmen ist wie ein Anker, zu dem wir immer wieder zurückfinden können, wenn wir abgelenkt sind.» Bei der ganzen Übung gehe es darum, zu erkennen, «dass ich zwar durchaus Gedanken habe, ich aber nicht meine Gedanken bin».
Viele meinten, so Frischknecht, dass es bei der Meditation darum gehe, nicht zu denken. Aber das sei falsch. Man dürfe denken. Man soll aber die Gedanken beobachten, nicht in ihnen versinken und sie auch nicht bewerten. «Stellen Sie sich vor, Sie schauen in einen blauen Himmel.
Die Gedanken und Gefühle sind wie Wolken, die vorbeiziehen. Man braucht nichts zu tun. Sie kommen, und sie gehen auch wieder», erklärt Frischknecht. Gerade in schwierigen Zeiten würden wir vergessen, dass der Himmel zwar voller dunkler Wolken sein kann, dahinter aber immer der blaue Himmel ist.
Forschung bestätigt Wirkung
Yuka Nakamura hilft Menschen ebenfalls, ihre innere Ruhe zu finden. Die ausgebildete Psychologin ist auch zertifizierte MBSR-Lehrerin. «Der grösste Stress kommt von unseren eigenen Gedanken. Mindfulness hilft, das zu erkennen», sagt die Fachfrau mit japanischen Wurzeln. «Unser Geist ist oft so beschäftigt mit Ängsten und Sorgen, dass wir das gar nicht mal mehr merken.»
Mit Mindfulness sei es möglich, eine grössere Perspektive zu bekommen und gelassener und bewusster zu handeln. Dies habe in jüngster Vergangenheit auch die Forschung bestätigen können. «Hirnscans von Meditierenden zeigen, dass Areale, die für Angst verantwortlich sind, durch Meditationspraxis beeinflusst werden können.» Solche und andere Resultate hätten dazu beigetragen, dass Meditation mittlerweile auch in der Wissenschaft ernst genommen werde.
Dass sich Achtsamkeitsübungen positiv auf die psychische Gesundheit auswirken, kann auch Wolfgang Tschacher bestätigen. Der ehemalige Leiter Experimentelle Psychologie der Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern und sein Team konnten in einer Studie nachweisen, dass Menschen, die ihren Alltag achtsam bewältigen, besser mit Stress umgehen können und positiver gestimmt sind. «Schlüsselpunkt war, dass diese Menschen Dinge hin- und annehmen, wie sie sind. Und sie nicht ständig bewerten – weder negativ noch positiv», sagt der inzwischen emeritierte Professor.
Aus psychotherapeutischer Sicht seien Achtsamkeitsübungen also zu empfehlen. «Sie werden bei psychotherapeutischen Interventionen denn auch immer mehr eingesetzt.» Aber auch hier gebe es wie bei allen Methoden eine Kehrseite. «Gerade bei langen Retreats müssen Menschen mit Psychose-Anfälligkeit aufpassen. So ein Aufenthalt kann eine Psychose auslösen», sagt Tschacher. Ansonsten könne Achtsamkeit aber jedem empfohlen werden, der etwas gelassener durch die Pandemie kommen möchte.
Zumindest Lisa Zimmermann hat ihre neu gewonnene Achtsamkeit auch in der Corona-Zeit geholfen. Wenn man übe, die Dinge einfach zu beobachten, ohne zu werten – dann stelle man fest, dass nichts ewig bleibe und alles ständig im Fluss sei. «So spürt man, dass auch so eine Pandemie vorübergeht. Und das gibt einem doch eine tiefe innere Ruhe.»
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