Letztes Interview mit John Le Carré «Mit 16 Jahren ging ich nach Bern und verwandelte mich»
Vor einem Jahr blickte der verstorbene Schriftsteller auf sein Leben zurück. Le Carré erklärt, was sein letztes Buch mit dem Brexit zu tun hat und wie er einst selber zum Spion wurde.
Das Interview sollte eines seiner letzten sein (zur Meldung: John le Carré ist tot). Es findet im Oktober 2019 in le Carrés Haus im feinen Londoner Stadtteil Hampstead statt – und beginnt mit einer Katastrophe. Das Handy ist leer, das Ladegerät passt nicht in britische Steckdosen, wie aufnehmen? Panisches Gefummel, während Le Carrés Frau Jane einen Stecker nach dem anderen bringt und er rührend beiläufig von einer mehrfach gescheiterten Interviewaufnahme mit einem «New York Times»-Journalisten erzählt.
Noch ehe die Sprache auf seinen letzten Roman «Federball» (2019) kommt, ist klar: Es gibt keine bezaubernderen Gastgeber. Endlich läuft die Aufnahme. Le Carré flucht hingebungsvoll über Politik und erinnert sich mit grosser Zärtlichkeit an seine Russlandbesuche. Nach zwei Stunden öffnet er eine Flasche Rotwein. Da ist das Gespräch über seinen Brexit-Thriller und die titelgebende Sportart längst auf Band.
Es gibt berühmte Romane über Baseball, Tennis, Boxen. Aber Federball?
Ein sehr poetisches Spiel. Der Ball bewegt sich auf einer sanften Flugbahn, dabei ist Federball sogar schneller als Squash. Wunderschön, sehr spirituell, ganz leise. Abends werfen in den Sporthallen Geschäftsleute ihren Anzug ab. Ein 18-Jähriger wird von einem 60-Jährigen fertiggemacht. Alter spielt keine Rolle. Als ich jünger war, habe ich gern Federball gespielt. Ich könnte noch spielen.
Beim Federball lernen sich Nat, ein nicht mehr ganz junger Agent des britischen Geheimdienstes MI6, und Ed, ein brillanter, aber fanatischer junger Mann, kennen. Es wird, ja, was: eine Vater-Sohn-Beziehung? Ein homoerotisches Verhältnis? Ein Kritiker schrieb, all Ihre Spionagegeschichten seien Liebesgeschichten.
Da bewegen Sie sich aber in dunklen Gewässern. Eine Vater-Sohn-Beziehung ist es sicherlich. Und: Menschen besitzen nicht nur eine sexuelle Orientierung. Nat ist sich dessen nicht bewusst. Aber er ist auf eine grauenvolle staatliche Schule gegangen, und als er Ed beim ersten Mal von oben bis unten mustert ... Im Drehbuchentwurf zur Verfilmung wälzen sich die beiden küssend auf dem Boden. Da habe ich aber dann doch gesagt: «Um Gottes willen.»
«Federball» ist ein Brexit-Bashing: Oligarchen verbünden sich mit Brexit-Anhängern, eine Verschwörung gegen die EU wird aufgedeckt. Ist ein so nobles politisches Anliegen nicht sehr hinderlich, um eine gute Geschichte zu schreiben?
Ich habe mit dem Buch vor knapp zwei Jahren angefangen. Als Schriftsteller muss man die Nase im Wind haben und sich seine Gefühle in einer politischen Situation klarmachen. Danach erfinde ich eine eigene Geschichte, aber angedeutet, codiert, nicht polemisch. Ich mag nicht alle meine Bücher, manche kann ich später kaum in die Hand nehmen. Aber dieses Buch liebe ich. Es ist unterhaltsam und enthält trotzdem starke Gefühle. Finde ich.
Man spürt viel Wut.
Ich war sehr wütend. Wie wurden wir lächerlichen Briten bewundert für unseren gesunden Menschenverstand, unser Fairplay! Alles Bullshit. Wir sind zu einer Art Glaubensgemeinschaft geworden, glaubensgesteuerte politische Extremisten. Ich persönlich glaube nicht an den Brexit.
«Europa war der Prügelknabe für alles. Oh, ich trinke Ihren Tee.»
Sie nennen den damaligen Aussenminister Boris Johnson in Ihrem Roman «saudumm». Bisschen hart?
Er war saudumm, dann wurde er befördert. Man darf nicht vergessen, dass sich all das in einer furchtbaren Tradition vollzieht, nämlich der vom Aufstieg einer neofaschistischen Gruppe.
Faschismus? Ernsthaft?
Auf jeden Fall. Johnson ist umgeben von zweitklassigen Typen, verängstigten Schmeichlern. Frauen haben nichts zu sagen. Alles entspricht dieser schrecklichen Eton-Tradition, ich kenne sie sehr gut, ich habe in Eton gelehrt. Es ist wichtiger, zu gewinnen als zu regieren – das geben sie an ihre Kinder weiter. Und immer verbindet sich das antieuropäische Ressentiment mit Kriegsnostalgie. Wir hatten keinen Sieg mehr seit 1945, aber alle schauen den Film «Dunkirk». Schrecklich.
Nicht alle Brexit-Anhänger waren in Eton. Wie erklären Sie sich die EU-Feindschaft der einfachen Menschen?
Jahrelange Sparpolitik, keine Lohnerhöhungen in der Industrie, Zusammenbruch des Sozialsystems. Die negativen Folgen der Einwanderung spüren die sozial Schwächeren am stärksten. Und alle Regierungen, sei es die von Tony Blair oder die von David Cameron, gaben Europa dafür die Schuld. Europa war der Prügelknabe für alles. Oh, ich trinke Ihren Tee.
Macht doch nichts. Sie nennen Donald Trump Putins «Latrinenputzer» und Wladimir Putin einen «fünftklassigen Spion». Nur Deutschland kommt gut weg. Ed hält die Deutschen für «die besten Europäer». Das ist sehr schmeichelhaft, aber es klingt, als habe er ein paar Dinge nicht mitbekommen.
Es ist sein Deutschland. Seine Figur braucht diese Unschuld. Ed hat in Tübingen studiert, in Berlin und München gearbeitet, weil er sich nicht ganz als Engländer fühlte. Er hat unbeholfen eine andere Identität angenommen, so wie ich einst. Sie wissen, dass ich einen seltsamen Vater hatte, ein Hochstapler, der im Gefängnis sass. Ich besuchte ein Internat nach dem anderen, und mit 16 Jahren beschloss ich, dass ich meine Zeit abgesessen habe, ging nach Bern und verwandelte mich in einen Deutschen. Diese neue Identität war meine Zuflucht, eine zweite Heimat.
Und deshalb wurden Sie Spion?
Ich sprach Deutsch wie ein Deutscher und arbeitete in Österreich als junger Geheimagent, der auf niedriger Ebene Spione in die sowjetische Zone schleuste. Die Quelle meiner Frustration ähnelte jener von Ed, sie rührte von dem Gefühl her, nirgends dazuzugehören. Ed steht für eine ganze Generation.
Die Spione in «Federball» arbeiten mit Kameras, Tinte, mechanischen Schreibmaschinen. Kein Big Data, keine Trojaner, kaum ein Handy. Wieso zeichnen Sie Spionage als derart sentimentales Gewerbe?
Die Elektronik ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass es in den Diensten tatsächlich eine Retrobewegung gibt. Top-Secret-Dokumente werden wieder mit der Hand geschrieben und persönlich überbracht.
Es scheint, als hätten Sie nach wie vor einen guten Draht zum «Circus», zum britischen Geheimdienst. Obwohl Ihnen der Ex-MI6-Chef Richard Dearlove jüngst in einem Artikel vorwarf, Sie beschmutzten mit Ihren Büchern den Ruf der Dienste. Ihre Antwort?
Dearlove hat Tony Blair vor dem Irakkrieg ungeprüfte Informationen über Saddam Hussein gegeben. Wenn einer dem Ruf der Dienste geschadet hat, dann er. Nun, ich habe ihm in der «Daily Mail» geantwortet.
Sie schreiben immer noch gleichzeitig von innen und von aussen über die Dienste. Wie ist das auf Lesungen?
Am schlimmsten sind Pseudo-Insider, die sich heranpirschen mit Worten wie: «Sie wissen schon, Operation Kuckuck. Ich übernehme die Amerikaner.» Als hätte ich wer weiss was für geheime Informationen.
Das klingt sehr lustig.
Die Dienste können unglaublich lustig sein. Einmal musste der Secret Service umziehen, inklusive eines grünen Safes, für den niemand den Schlüssel besass. Also beauftragte der Chef einen der angestellten Einbrecher, zitierte ein paar Abteilungsleiter als Zeugen dazu, der Safe wird geöffnet – und er ist leer. Aber hinter dem Safe entdeckten sie eine Hose von Rudolf Hess, die der Service-Chef während des Kriegs dort versteckt hatte, mit einem Vermerk: Könnte interessant sein, Untersuchung der deutschen Textilindustrie.
In Ihren Romanen ist die Welt der Geheimdienste doch eher düster. «Federball» ist eine Ausnahme, da bekommt ein russischer Doppelagent eine amüsante Sinnkrise wegen des Brexit. Ist das schwarzer Humor?
Ja – warum für den Westen spionieren, wenn er alle westlichen Werte verrät? Was will man Überläufern noch verkaufen?
«Seltsam, diese Doppelagenten, sie werden süchtig nach dem Adrenalin, der Anspannung, für zwei Seiten zu arbeiten.»
30 Jahre nach dem Mauerfall ist Russland in Ihren Büchern Feindesland. Wie gut kennen Sie es?
Ich durfte erst Ende der Achtziger einreisen, wegen «Der Spion, der aus der Kälte kam». Und weil ich gegen den Doppelagenten Kim Philby geschrieben hatte. Er lebte in Moskau und wollte mich sehen für eine Art Gespräch unter Kollegen. Er hasste die Sowjetunion, hätte gern die Cricketergebnisse erfahren. Ich lehnte ab, er hatte zu viele Menschen auf dem Gewissen. Seltsam, diese Doppelagenten, sie werden süchtig nach dem Adrenalin, der Anspannung, für zwei Seiten zu arbeiten.
Wie haben Sie Moskau erlebt?
Ich hatte ganz aussergewöhnliche Begegnungen. Eines wunderbaren, herzzerreissenden Tages luden mich die Englischstudenten der Moskauer Universität ein, 800 Leute. Einer fragte: Was halten Sie von Marx und Lenin? Ich antwortete: Ich liebe beide. Riesengelächter. Danach brachten sie mich in den Gemeinschaftsraum mit einem alten Fernseher und Büchern, die sie lesen wollten. Darunter waren auch meine.
Sie sind nicht bekannt für Happy Endings, aber «Federball» geht geradezu märchenhaft gut aus. Gibt es doch Hoffnung?
Was ich sagen will: Die Politik hat einen so absurden Fanatismusgrad erreicht, dass sich der Einzelne auf das konzentrieren muss, was ihm wichtig ist. Ich hatte viel Spass beim Schreiben. Beim Lesen werden die Menschen lächeln.
So weit die Literatur. Und die Realpolitik?
Die Atmosphäre in England ist derzeit niederschmetternd, unglaublich klaustrophobisch. Meine Grossmutter wurde in einem winzigen Dorf in Südirland geboren. Ich habe es vor kurzem besucht. Vielleicht kaufe ich mir dort ein kleines Haus, um zwischendurch durchatmen zu können. Einen irischen Pass habe ich jedenfalls schon beantragt.
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