Kinderkrebsmonat September«Mit einer solchen Diagnose ziehen wir Familien den Teppich unter den Füssen weg»
Ein Kind, das an Krebs erkrankt? Was dies für Familien bedeutet, ist kaum vorstellbar. Pflegeexpertin Maria Flury hilft ihnen am Universitäts-Kinderspital Zürich, aus dem freien Fall in eine andere Art Normalität zu finden.

Jedes Jahr erkranken rund 300 Kinder und Jugendliche in der Schweiz an Krebs. Maria Flury arbeitet auf der Onkologie und im pädiatrischen Palliativ-Careteam des Universitäts-Kinderspitals Zürich – und begegnet zahlreichen betroffenen Kindern und ihren Familien. Als Pflegeexpertin hilft sie Eltern bei der Pflege ihres kranken Kindes im Spital, bereitet sie darauf vor, es zu Hause zu betreuen, und unterstützt am Beratungstelefon, wenn daheim ein Problem auftaucht. Wie die Welt und der Alltag von Familien durch eine solche Diagnose aus den Fugen geraten, erzählt sie zum internationalen Kinderkrebsmonat September.
Frau Flury, man mag sich kaum vorstellen, was für ein Schock es für eine Familie ist, wenn ihr Kind an Krebs erkrankt.
Wir ziehen einer Familie mit einer solchen Diagnose den Teppich unter den Füssen weg, ja. Bis dahin hatte ihr Kind mal Schnupfen oder Magen-Darm-Grippe. Nun wird sie damit konfrontiert, dass es eine potenziell tödliche Krankheit hat, die es ohne intensive Therapie nicht überlebt. Mit so etwas rechnet man nicht.
Viele der Kinder und Jugendlichen, die in der Schweiz an Krebs erkranken, kommen zu Therapien ins Kinderspital Zürich. Wie fangen Sie betroffene Familien auf?
Als grösstes pädiatrisches Onkologie-Zentrum hierzulande sehen wir rund ein Drittel aller Kinder mit Krebs. Neben der medizinischen Betreuung werden betroffene Familien psychologisch begleitet. Den meisten gelingt es, mit der Zeit eine andere Normalität zu erlangen, was mich immer beeindruckt. Als Familie alles zu stemmen, was mit der Diagnose zusammenhängt, ist eine enorme Leistung.
Mit welchen Problemen sehen die Familien sich konfrontiert?
Natürlich haben sie riesige Sorgen um ihr Kind. Sie müssen sich aber auch in einem komplett neuen Alltag zurechtfinden. Zig Termine und Fahrten sind zu bewältigen, ob das Kind im Spital ist oder zu ambulanten Therapien kommt. Zudem behandeln wir zwar nach strikt vorgegebenen «Fahrplänen», können diese aber oft nicht einhalten. Kürzlich hätte ein Kind für eine Chemotherapie 48 Stunden hospitalisiert werden sollen. Die Eltern hatten Arbeit, Geschwister und alles für diese Zeit organisiert. Und dann waren die Blutwerte des Kindes nicht gut genug. Wir mussten die Familie heimschicken und für drei Tage später einbestellen. Ohne sicher zu sein, dass es in drei Tagen klappt…
… und nicht noch einmal alles umzuplanen ist?
Die Diagnose wirft, kurz gesagt, alles über den Haufen. Oft bedingt sie, dass ein Elternteil im Beruf reduziert oder ihn aufgibt. Zumal manches – wie der Besuch einer Kita – nicht mehr immer möglich ist. Wenn Geschwister da sind, müssen auch sie stark zurückstecken. Ein-, zwei- oder dreimal beim «Gspänli» zu essen, finden sie vielleicht cool. Über Monate hinweg ist es nicht toll. Und im besten Fall ist eine Therapie irgendwann fertig – eine Leukämie zu behandeln, dauert etwa zwei Jahre. Aber wir haben auch Kinder, die viele Jahre bei uns ein- und ausgehen.
Sie arbeiten seit über dreissig Jahren im Bereich Onkologie. Die Heilungschancen von Kindern mit Krebs haben sich seither wesentlich erhöht. Wie haben Sie die medizinische Entwicklung erlebt?
Man geht heute davon aus, dass etwa 85 Prozent der Kinder geheilt werden können. Therapien haben sich weiterentwickelt, neue Medikamente sind hinzugekommen. Hatte ein Kind früher einen ersten Rückfall, gab es vielleicht eine weitere Behandlungsoption. Heute verfügen wir zum Glück über mehr Möglichkeiten. Anders als früher ist auch, dass wir Kinder schneller entlassen. Damals blieb ein Kind, das z. B. Leukämie hatte, erst einen Monat im Spital. Heute darf es heim, sobald es stabil ist.
Im Rahmen einer Studie haben Sie Eltern befragt, wie es war, ihr Kind erstmals nach der Diagnose nach Hause zu nehmen. Von welchen Gefühlen berichteten sie?
Eine Mutter sagte mir, es sei gewesen, wie als sie mit ihrem Baby heimkam nach der Geburt. Die Frage, wie etwas einzuschätzen ist, stellt sich ja ganz neu. Was ist zu tun, wenn das Kind erbricht? Wie weiss ich, ob es einen Infekt hat oder auf Medikamente reagiert? Ob etwas harmlos ist oder nicht?
Wie bereiten Sie Eltern auf solche Unsicherheiten vor?
Wir besprechen mit ihnen genau, was die Betreuung eines krebskranken Kindes mit sich bringen kann. So wissen sie etwa, dass Fieber immer ein Notfall ist. Wir helfen aber auch bei Fragen, wie der Tagesablauf zu «büschelen» ist, wenn ihr Kind drei, vier Medikamente über den Tag verteilt schlucken muss, teils nüchtern. Oder was zu tun ist, wenn es sie nicht nehmen will. Und dann sage ich Eltern auch stets, sie sollen nun nicht beweisen, dass sie putzen, Wäsche waschen oder einkaufen können.
Sie sprechen die Hilfe aus dem Umfeld an?
Ja. Es gibt viele Menschen, die helfen wollen. Auch wenn sich manche sorgen, etwas Falsches zu sagen: Betroffenen Familien tut es gut, wenn Menschen Kontakt halten. Und es ist wichtig, dass sie ihre Kräfte einteilen und ganz konkrete Dinge übertragen, wenn jemand Hilfe anbietet.
Auf welche «offizielleren» Hilfsangebote können Eltern zählen?
Bei rechtlichen und versicherungstechnischen Fragen hilft unsere Sozialberatung. Sie unterstützt aber auch bei der Alltagsorganisation, prüft, ob sich eine Haushaltshilfe organisieren lässt, oder verweist auf weitere Unterstützungsangebote, etwa von Stiftungen. Wir arbeiten eng mit der Stiftung Sonnenschein zusammen. Sie organisiert u. a. ein Sommerlager für Familien, das wir medizinisch begleiten. So können auch Kinder, die in Therapie sind, mit ihren Familien teilnehmen. Das ist enorm wertvoll.
Und die betroffenen Kinder? Wie kommen sie mit der Situation zurecht?
Kinder können sich mit vielem arrangieren. So schaffen es die meisten mit der Zeit, weniger gestresst zu sein, wenn Unangenehmes ansteht. Wir bereiten sie auf jeden Eingriff vor und versuchen ihnen zu helfen, mit allem, was zur Verfügung steht – von Spital-Clowns bis Maltherapie. Und oft entwickeln Kinder eine bemerkenswerte Kompetenz im Umgang mit ihrer Krankheit.
Wie zeigt sich das?
Kürzlich sagte ich einem sechsjährigen Mädchen, es müsse in zwei Tagen wieder kommen. Es antwortete: «Ja, dann können wir den Portkatheter wieder anstechen.» Also den Venenzugang unter seiner Haut, über den wir die Chemotherapie verabreichen. Eine Sechsjährige, die so was mit so einer Selbstverständlichkeit sagt…! Solche Dinge geben mir das Gefühl, dass wir den Kindern zwar viel, aber nicht Unmögliches zumuten – weil sie so viele Ressourcen mobilisieren können.
Manchmal aber müssen sie und ihre Familien sich auf das Schlimmste einstellen.
In den allermeisten Fällen ist es unser erklärtes Ziel, dass ein Kind gesund wird – und allermeistens erreichen wir es. Wir nehmen dafür vieles in Kauf, auch dass eine intensive Therapie die Lebensqualität reduziert. Doch manchmal kommt ein Punkt, an dem es keine heilende Therapie mehr gibt. Bei einigen Diagnosen, z. B. speziellen Hirntumoren, gilt dies von Anfang an. Dann behandeln wir das Kind palliativ. Wir setzen also alles daran, ihm möglichst lang eine möglichst hohe Lebensqualität zu erhalten.
Wie verkraften Familien einen so niederschmetternden Befund?
Zu akzeptieren, dass es keine Heilung gibt, ist ein langer Prozess, auf dem wir Eltern und Kind eng begleiten. Für Familien ist es schwer, zu sagen: Jetzt hören wir auf mit Therapie. Da sind wir als Behandlungsteam gefordert. Wir sind auch dem Kind verpflichtet. Bringt eine Therapie keine Verbesserung, wollen wir ihm keine schlimmen Nebenwirkungen mehr zumuten. Natürlich darf, ja muss man hoffen bis zuletzt. Manchmal geht es einem Kind auch viel länger gut, als wir gedacht hätten. Wunder allerdings gibt es leider nicht. Dazu ist die Diagnostik heute zu präzise.
Wie gehen Sie damit um, wenn ein Kind stirbt?
Das geht mir jedes Mal sehr nah. Mitgefühl ist nötig und wichtig. Um handlungsfähig zu bleiben und der Familie beistehen zu können, darf man aber den Grat zwischen Mitgefühl und Mitleid nicht überschreiten. So braucht es für die eigene Trauer Coping-Strategien. Mein Ritual ist es, einen Kuchen zu backen und eine Kerze anzuzünden, wenn ein Kind gestorben ist. Den Kuchen bringe ich auf die Station. Auch der Austausch im Team ist eine starke Ressource.
Neben Trauer erleben Sie – zum Glück viel häufiger – den schönen Moment, ein Kind gesund ziehen lassen zu können. Wie finden Familien den Weg zurück in eine «normale Normalität»?
Tatsächlich brauchen viele eine Weile, um wieder Fuss zu fassen. So lang wir die Krankheit – den «Bösewicht» – therapieren, vermitteln wir auch Sicherheit. Was das Absetzen der Medikamente auslöst, ist nicht zu unterschätzen. Das Urvertrauen, dass ein Kind gesund gross wird, wurde mit der Diagnose ja komplett zerstört. Und es kommt wohl nie mehr vollumfänglich wieder. Doch jede Nachkontrolle, die positiv ausfällt, gibt ein Stück Vertrauen zurück.
Fehler gefunden?Jetzt melden.