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Meinung

Kaltërina Latifi stellt die Sinnfrage
Wie will ich den Rest meines Lebens leben?

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Sie ist zum Klischee geworden, die Krise der Lebensmitte. Wenn man hört, einer befinde sich in der Midlife-Crisis, denkt man sofort an Männer um die fünfzig, die Frau und Kinder verlassen, um noch mal richtig durchzustarten, privat wie auch beruflich, und das samt Lederjacke und Sportwagen. Ein Verhalten, das einer seichten Komödie gleicht und uns nur abschätzig lächeln lässt.

Doch der im Jahre 1965 durch den kanadischen Psychoanalytiker Elliott Jaques in die Psychologie eingeführte Begriff der Midlife-Crisis und die damit einhergehenden «Symptome» verweisen auf ein ernst zu nehmendes Phänomen, dem wir uns mit dem Alter früher oder später auf irgendeine Weise alle stellen müssen. Je nach sozialen und kulturellen Faktoren trifft es die einen früher (Mitte dreissig), die anderen später (über fünfzig). Manche geraten völlig aus den Fugen, andere spüren nur, dass sich etwas verändert (hat). Manche flüchten vor der neuen Aufgabe (und kaufen einen Ferrari, wenn sie es sich leisten können), wieder andere verzweifeln fast an ihr, stellen die gesamte «erste Hälfte des Lebens» infrage angesichts der bevorstehenden bedrohlichen «zweiten Hälfte».

Wie bei so vielen Dingen im Leben gilt auch hier: Man hält sie für stereotypische Gemeinplätze, wenn andere davon erzählen, bis man sich selbst plötzlich darin wiederfindet und das sogenannte Klischee einem zur eigenen Wirklichkeit geworden ist – zum Beispiel in Gestalt eines alles auf den Kopf stellenden Einschnitts in unserem Leben, der uns auffordert, über das Gelebte nachzudenken und uns mit Blick auf das Kommende vielleicht sogar neu auszurichten.

Man könnte diese altersbedingte Zäsur also auch als wesensbestimmenden Wendepunkt eines Menschen bezeichnen. War vorher rein theoretisch noch alles möglich, so ist das mit jetzt vierzig (ich nehme mich selbst als Beispiel) de facto nicht mehr der Fall.

Und auf einmal brennt die Sinnfrage lichterloh: Wozu? Wofür? Weswegen? Gerade in Anbetracht der Vergänglichkeit – der eigenen und derer, die man liebt. Wie will ich die nächsten (im Idealfall) vierzig Jahre meines restlichen Lebens leben? Trägt mich das, was mich bisher getragen hat? Was zählt wirklich?

Friedrich Hölderlin hat dieses Dilemma in einem seiner wohl bekanntesten Gedichte, «Die Hälfte des Lebens», aus dem Jahr 1804 poetisch auf den Punkt gebracht. Genau in der Mitte des Poems gibt es eine Zäsur, eine Art Leerstelle, und das danach, in dieser poetischen zweiten Hälfte auftretende Ich fragt sich: «Weh mir, wo nehm’ ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / Den Sonnenschein …»

Vielleicht muss man ja – metaphorisch gesprochen – die Mitte des Lebens erreicht haben, um nach den Rändern seines Lebens greifen zu können: dorthin, wo über die Jahre so manches liegen geblieben ist, dem wir bisher keine oder wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben, weil wir viel zu beschäftigt waren mit den angeblich «zentralen Dingen» (Ego, Ansehen, Ruf, Karriereplanung etc.).

Die Hälfte des Lebens, sie lehrt uns neu, was peripher und was wesentlich ist.