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Twitter-Hetzer vor Gericht
Wie sich der Messerstecher von der Sihlcity im Netz radikalisierte

[SYMBOLBILD Jugendkriminialtaet / Gestellte Szene] Eine Gruppe Jugendlicher - einer davon mit einem Messer in der Hand, fotografiert am 15. Oktober 2022. (KESTONE/Christof Schuerpf)

Er stammt aus gutem Haus in Zürich. Doch während der Corona-Pandemie driftet der 22-jährige Leon K. (Name geändert) immer mehr ab. Auf Twitter hetzt der damalige Student gegen Schwarze, Polizisten oder Ausländer. Und am Ende sticht er im Juni 2020 mit dem Messer auf einen jungen Mann ein.

Wie konnte es so weit kommen? Eine Antwort darauf soll der Prozess liefern, der am Freitag am Bezirksgericht Zürich beginnt. Dem Beschuldigten wird versuchte vorsätzliche Tötung vorgeworfen. Er und sein Anwalt machen Notwehr geltend.

Waffen, Sturmhaube und Hitlergruss

Der Gutachter attestiert Leon K. im Verfahren eine geringe kriminelle Energie. Doch die Ermittler der Stadtpolizei Zürich und der Staatsanwaltschaft sind beunruhigt, als sie die beiden Handys des Verdächtigen auswerten – und sehen, wie sich dieser vor der Tat immer mehr radikalisiert hat.

Den Akten zufolge interessiert sich Leon K. im Internet für Schwerter, Armbrüste sowie verschiedene Schusswaffen und Munitionsarten. Weiter sieht der untersuchende Polizist, dass sich der Student über den Kauf eines Benzinkanisters informierte. Auf einem Handy gibt es zudem ein Foto, das ihn mit Sturmhaube zeigt. Auf einem anderen spielt er den Akten zufolge Tischtennis in einem T-Shirt mit dem Serienmörder Charles Manson darauf. Zudem gibt es Bilder, auf denen der Beschuldigte mit «Hitlergruss» abgelichtet ist.

Auffällig oft sucht dieser im Internet nach Zeitungsartikeln, die über Vergewaltigungen oder Vorfälle von Voyeurismus berichten – zum Beispiel über das Filmen von Frauen auf Damentoiletten, wie die Polizei herausfindet. Sind das nur Spielereien eines spätpubertierenden Jugendlichen? Oder ist das möglicherweise gefährlich?

Tausende sehen verstörende Tweets

Ab Anfang 2020, zur Zeit des ersten Corona-Lockdown, interessiert sich Leon K. jedenfalls nicht mehr nur für Medien wie die NZZ, den «Tages-Anzeiger» oder die «New York Times». Fast täglich besucht er nun auch die News-Plattform «Breitbart», wie den Akten zu entnehmen ist. Er scheint deren äusserst konservative Weltanschauung regelrecht aufzusaugen. Auf seinem Handy findet die Polizei von März bis Ende Mai 2020 verstörende Tweets, die rechtsextrem und gewaltverherrlichend sind.

So schreibt Leon K. laut Anklage unter einem Pseudonym: «Alle Männer, die Feministen sind, sind Verräter ihres Geschlechts. Alle, die für Migration sind, sind Verräter ihrer eigenen Nation. Früher hat man Verräter noch gehenkt.» Jeder Polizist habe «den Tod verdient», findet der junge Mann. Oder: «Meine Version wäre es, alle Nicht-Schweizer aus der Schweiz zu deportieren.»

Über die linksextreme Gruppe Antifa twittert der Student: «Jedes Antifa- Mitglied sollte öffentlich hingerichtet werden.» Schwarze wiederum seien «eine primitive Rasse». Nach den Protesten wegen Polizeigewalt in den USA, bei denen es zu Plünderungen kommt, schreibt Leon K.: «Ich hoffe, dass möglichst viele dieser Plünderer in Minneapolis erschossen werden.» Oder: «Die sollten alle erschossen werden, so ginge eine vernünftige Regierung mit solchen Tieren um.»

Leon K. speichert auch Auszüge der Manifeste von Amokläufern ab und verherrlicht sie in seinen Tweets: «Ich bin an dem Punkt angelangt, wo ich mir Männer wie Breivik, Tarrant, Roof oder Cruz herbeiwünsche. Ach, was wäre es befriedigend, einen Amokläufer all diese Menschen erschiessen zu sehen, es wäre eine Wohltat, ein Held wäre er.»

Die Tweets sehen laut den Untersuchungen zwischen 750 und 20’000 User. Nun muss sich der Verfasser wegen Diskriminierung und Aufruf zu Hass verantworten. Sein Verteidiger hält fest, dass sich sein Klient für die Tweets sehr schämt. «Diese treiben ihm die Schamröte ins Gesicht, wenn er sie heute wieder liest.»

Mit der Machete gegen den Baum

Der Hass schwappt in der Folge ins reale Leben über. Am 8. Juni 2020 geht Leon K. laut Anklage mit seinem Bruder in den Belvoirpark, zieht eine 50 Zentimeter lange Machete, die er im Internet gekauft hat, aus dem Rucksack und haut damit eine Jungbuche um. Vier Tage später sollen die beiden auch im Rieterpark auf eine 200-jährige Linde eingehackt haben.

Sein Bruder Noah K. wird sich am Freitag wegen des mutmasslichen Vandalenakts ebenfalls vor Gericht verantworten müssen. Er ist bereits rechtskräftig verurteilt wegen schwerer Körperverletzung, begangen in einem Notwehrexzess: Er schlug 2015 in einem Zürcher Park einen Mann nieder, der ihn laut Urteil sexuell bedrängt hatte. Der Mann lag Monate im Koma und ist heute behindert. Im Gefängnis sass Noah K. nie, er wurde unter Jugendstrafrecht verurteilt.

Vandalen beschaedigen eine150-jaehrige Linde im Rieter Park, Ihnen droht eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren.
12.06.2019
(URS JAUDAS/TAMEDIA AG)

Zurück zu Leon K. In dieser Lebensphase zwischen 2019 und 2020 sucht der junge Mann immer wieder die Provokation. Schon im Juni 2019 ging er an die Frauendemo, wie es in einem ausführlichen Bericht der «Republik» heisst. Demnach trug Leon K. eine rote Mütze mit dem Slogan «Make America Great Again» und ein T-Shirt mit Donald Trumps Konterfei und dem Schriftzug: «The Great White Hope». An der Kundgebung entrissen ihm Frauen die Kappe. Worauf der Beschuldigte laut «Republik» später unter dem Schlagwort «Frauenstreik» den Tweet absetzte, eine «beschissene flachbrüstige weisse Lesbe» habe ihn angegriffen. Und: «Ich finde dich.»

Ein Jahr später folgt die nächste Aktion: Der junge Mann geht mit seinem Bruder an die «Black Lives Matter»-Demonstration in Zürich, laut der «Republik» trägt er ein schwarzes T-Shirt mit dem roten «Wrath»-Schriftzug (Zorn), wie der Massenmörder Dylan Klebold eines getragen hat. Diesmal offenbar ohne weitere Konsequenzen.

Im Coop kauft er sich ein Rüstmesser

Dann eskaliert die Situation. Es ist der 27. Juni 2020. Leon K. geht zum Shoppingcenter Sihlcity, er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «White Lives Matter». Dieser Slogan wird in den USA immer wieder von Rassisten verwendet als Reaktion auf die Bewegung «Black Lives Matter». Beim Coop stösst er auf eine Gruppe von rund zehn jungen Männern, die er laut Anklageschrift der Zürcher Staatsanwaltschaft als FCZ-Fans einordnet. Er kauft sich ein Mineralwasser – und ein Rüstmesser mit einer 8 Zentimeter langen Klinge im Wellenschliff.

Später wird Leon K. erklären, er habe sich von der Gruppe bedroht gefühlt. Er verlässt das Shoppingcenter und läuft Richtung Utobrücke. Die Gruppe junger Männer folgt ihm, wie Bilder von Überwachungskameras zeigen.

Auf dem Weg zur Utobrücke sprechen ihn drei Männer aus der Gruppe laut Anklage auf sein T-Shirt an, doch Leon habe dies ignoriert. Es kommt in der Folge zu einem Disput und Handgemenge. Die Anhänger verlangen vom Studenten, er solle das Oberteil ausziehen. Irgendwann wird der Beschuldigte gegen einen Metallzaun gestossen, er trägt Schürfungen davon.

Was dann passiert, ist umstritten. Die Variante der jungen Männer lautet, sie hätten sich abgewendet, dann sei Leon K. von hinten auf das spätere Opfer mit dem Messer losgegangen. Ein Zeuge wiederum gibt an, Leon habe versucht, zu «deeskalieren». Und der Beschuldigte selbst sagt, er sei geschlagen worden und habe sich in Panik mit dem Messer gewehrt.

Das Gericht beginnt bei null

Das Opfer wird laut Staatsanwaltschaft lebensbedrohlich verletzt, mit zwei Stichen in den Rücken, die bis in die Lunge reichten. Und drei Stichen in den Oberarm, die lebenswichtige Blutgefässe durchtrennten.

Nicht nur Leon K., sondern auch Mitglieder der Gruppe müssen sich nun vor Gericht verantworten – wegen Raufhandels. Für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.

Der Prozess, der den Fall ab Freitag aufrollt, fand eigentlich schon einmal statt. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Leon K. im Juli 2022 zu einer Freiheitsstrafe und verneinte eine Notwehr. Nun muss er sich vor demselben Gericht nochmals verantworten – wegen des genau gleichen Sachverhalts.

*Zürcher Kinder von Promis vor Gericht wegen versuchter Toetung: Beim Sihlcity jemanden niedergestochen und im Rieterpark eine Linde zerstoert.

Verantwortlich für die Neuauflage ist eine juristische Seltenheit: Eigentlich sollte das Zürcher Obergericht in zweiter Instanz über den Fall entscheiden. Doch dieses kam zum Schluss, das Bezirksgericht sei beim ursprünglichen Entscheid «nicht verfassungs­konform» vorgegangen. Ursprünglich wurden die Verfahren getrennt beurteilt. Stattdessen müsse das Bezirksgericht nun alle Anklagen, also auch jene gegen die Mitglieder der Gruppe in der Sihlcity, gemeinsam verhandeln.

Der Fall beginnt somit juristisch gesehen nochmals neu, fast vier Jahre nach dem verhängnisvollen Tag in der Sihlcity. Der Anwalt des Beschuldigten ist der Meinung, dass eine Notwehrsituation vorgelegen habe. «Eine zeitweise Radikalisierung hat sicher stattgefunden», sagt er auf Anfrage, «zum Beispiel durch die Isolation während Corona.» Es stimme aber nicht, dass diese Radikalisierung für die Eskalation in der Sihlcity verantwortlich sei. Vielmehr sei es so gewesen, dass sein Mandant von einer Gruppe junger Männer verfolgt und körperlich angegangen worden sei. Sein Mandant habe hierbei versucht, aus der Gefahrensituation rauszukommen und sich zu erklären. «In der Folge entwickelte sich eine unheilvolle Dynamik, welche für alle Beteiligten sehr bedauerlich ist.»