AboLauschen, Atmen, MüffelnSo fühlt es sich an, blind einen Marathon zu laufen
Hans-Peter Schmid läuft die Königsdistanz in Zürich. Er erzählt, was ihn am meisten fordert und wie das Wow-Gefühl am Schluss ist – obwohl er die Ziellinie nicht sieht.

«Ein Brodeln, das trifft wohl am besten, was ich wenige Augenblicke vor dem Marathonstart im Pulk wahrnehme. Da ist die Stimme des Speakers, die aufputschende Musik, da sind die Leute, die ihre Nervosität mit Geschwätzigkeit überdecken. Ich empfinde aber auch eine irrsinnige Läufergemeinschaft. Wie wir dastehen, alle dicht beisammen. Ich fühle Nähe und spüre intensiv die Präsenz von Leben um mich herum. Es ist verdammt schwierig, in Worte zu fassen, wie sich die Wahrnehmung von Leben, von Anspannung und die Gegenwart von Menschen anfühlt. Alle haben wir dasselbe Abenteuer vor uns. Das macht aus uns eine Schicksalsgemeinschaft, darin fühle ich mich geborgen.
Trotzdem ist der Respekt auch vor meinem siebten Marathon sehr gross. Denn obwohl wir als ‹Blind› und ‹Guide› markiert und mit einem Band verbunden sind, kommt es immer wieder vor, dass uns andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer genau vor die Füsse laufen. Das kann für mich extrem gefährlich werden – und zum Sturz führen. Was mir zum Glück noch nie passiert ist. Auch wenn ich all meine Sinne schärfe, kann ich eine solche Situation nicht erahnen und unmöglich rasch genug reagieren. Deshalb geht es kurz vor dem Start für mich und meinen Guide darum, uns möglichst gut zu platzieren. Wir stellen uns tendenziell in einen schnelleren Startblock als jenen, in den ich mit meiner angepeilten Zielzeit hingehören würde. Denn im Gewusel, das nach dem Start entsteht, ist es für uns fast unmöglich zu überholen. Es ist viel einfacher, wenn wir nach hinten ‹durchgereicht› werden, bis wir im Feld sind, in das wir gehören.
Ich bin glücklich, wenn wir die ersten paar Hundert Meter heil hinter uns haben. Denn in Zürich werden die Tramschienen, die kurz nach dem Start immer wieder den Weg kreuzen, eine zusätzliche Herausforderung sein. Gerade wenn sie in Kurven liegen, ist das äusserst heikel. Hindernisse versuchen wir immer im 90-Grad-Winkel zu überqueren, das wird an verschiedenen Orten aber so nicht möglich sein. Je spitzer der Winkel, desto höher die Gefahr, dass ich in die Schienen hineingerate. Für meinen Guide wird das ein besonders diffiziler Streckenabschnitt sein. Vermutlich muss er mich hier gar an den Schultern dirigieren. Gut, ist der Start am Morgen, da ist mein Kopf noch frisch.
Die ersten Kilometer sind für alle Läufer verführerisch – auch für uns Blinde. Die Euphorie verleitet uns dazu, ein zu hohes Tempo anzuschlagen – und so zu viel Energie liegen zu lassen. Vielleicht hat das mit dem Fluchttrieb des Menschen zu tun, einfach mal nach vorn, weg von der Masse zu kommen, um sich Raum zu verschaffen. Bestimmt macht uns da aber auch das Adrenalin Beine. Weil ich ohnehin ein schlechtes Geschwindigkeitsgefühl habe, müssen mich meine Guides vielmals bremsen.
«Wenn ich die Stimmen meiner Mitläuferinnen und Mitläufer höre, nehmen diese Konturen an.»
Meine Ohren sind überall. Besonders in der ersten Hälfte des Rennens. Ich bin dann extrem neugierig. Logisch, mein Ohr ist hauptsächlich für meinen Guide offen. Trotzdem sauge ich regelrecht auf, was sonst noch alles läuft, schnappe Gespräche auf, die mir noch mehr Informationen liefern, was um mich herum passiert. Da gebe ich auch mal meinen Senf dazu und rede mit. Wenn ich die Stimmen meiner Mitläuferinnen und Mitläufer höre, nehmen diese Konturen an. Auch über ihre Atmung und den Klang ihrer Schritte mache ich mir eine Vorstellung von ihnen und ihrer Verfassung. Je nachdem, ob sie leichtfüssig laufen und dabei gleichmässig schnaufen oder vor sich her stampfen und nach Luft schnappen.

All das bringt Leben ins Bild, das ich mir von einem Anlass mache. Tja, und irgendwann liefert die Nase eher weniger erwünschte zusätzliche Informationen. Gewisse Läufer erkenne ich an ihrem Geruch – oder an jenem ihrer müffelnden Ausrüstung, was mich an Vaters Militärzeug erinnert. Manchmal ist das lustig, manchmal aber auch extrem störend, dann sage ich meinem Guide, dass wir zu diesem Läufer Distanz schaffen müssen. Sehr irritierend sind für mich jene, die schlurfend oder trampelnd laufen. Das versaut mir die Akustik.
Hinzu kommt, dass ich so die Schritte meines Guides oder seine Atmung nicht mehr höre. Für mich ist das aber wichtig, denn wir laufen in versetztem Gleichschritt. Weil die Geräusche von hinten lauter sind als jene von vorn, ist es nicht damit getan, ein wenig vor diesen lauten Läufern zu sein. Da müssen wir uns schon richtig absetzen oder uns nach hinten fallen lassen. Genauso anspruchsvoll sind die ganz Fitten, die noch lange plaudern können – das muss ich manchmal aktiv ausblenden.
«Und wenn die Luft nicht mehr für viele Worte reicht, kommt der Körperkontakt ins Spiel.»
Ich kenne meine Begleiterinnen und Begleiter gut und weiss, wie sie rennen – und auch, wie sie dabei tönen. Darum erkenne ich am Klang ihrer Schritte, ob sie entspannt laufen – also Courant normal herrscht. Ich mache daran aber auch aus, ob mein Guide etwas entdeckt hat, das ihn alarmiert – noch bevor er etwas zu mir sagt. Zum Beispiel, weil sich seine Schritte unwillkürlich verkürzen. Auch die Atemfrequenz meiner Begleiterinnen verrät oft, noch bevor sie es aussprechen, dass etwas Aussergewöhnliches vor sich geht. Ich kann zudem aus ihrer Stimmlage heraushören, wie kritisch oder dringlich die Situation jeweils ist. Sie lässt auch ihren Stresspegel und ihre Verfassung erahnen.
Und wenn die Luft nicht mehr für viele Worte reicht, kommt der Körperkontakt ins Spiel. Dann nimmt mich mein Guide an die Hand, oder wir laufen eine Weile Unterarm an Unterarm. Ich spüre dann, ob er seinen Oberkörper in eine Richtung dreht, wie er verlangsamt oder wieder Fahrt aufnimmt, aber auch, wie angespannt er oder sie ist. Ich war beispielsweise einmal mit meiner Begleiterin Sandra unterwegs, als sie mich gerade vor einem Rückspiegel eines parkierten Autos warnen wollte. Das hatte ihre Körpersprache aber längst getan, und ich konnte mich rechtzeitig zu ihr abdrehen. Im Moment selbst hatte ich zwar keine Ahnung, worum es ging – wusste aber subito, was zu tun war.

Meine Begleiter warnen mich nicht nur vor Hindernissen und Richtungswechseln. Sie sagen mir auch, wenn sich die Bodenbeschaffenheit ändert. Ich selber spüre den Unterschied zwischen einem kiesigen Untergrund und erdigen Trampelpfaden auch – diese verlangen mir sehr viel ab. Zum Glück habe ich früher Langlaufrennen bestritten und Judo gemacht. Dadurch habe ich mir nicht nur einen guten Gleichgewichtssinn angeeignet, sondern habe auch gelernt, reflexartig zu reagieren. Davon profitiere ich heute extrem, wenn ich über Unebenheiten und Vertiefungen laufe und schnell darauf reagieren oder sie ausbalancieren muss. Das erfordert jeweils eine Extraportion Konzentration. Das ist mit ein Grund, weshalb ich stark gedämpfte Schuhe bevorzuge. Ihre dicke, eher weiche Sohle kann gewisse Unebenheiten für mich ausgleichen. Sie bieten quasi mehr Knautschzone, und ich muss nicht so fest auf Zack sein.
Unterwegs geniesse ich das Zusammenspiel mit meinen Begleitern und den Flow, der entsteht, wenn unsere Körper sich synchron bewegen. Ich horche auch gern, was die anderen Läufer kommentieren – etwa wenn sie einen Alphornbläser am Strassenrand erspähen. Dann erfrage ich manchmal bei meinem Guide mehr dazu, wie er aussieht oder was er anhat. Gerade in der ersten Hälfte, wo die Müdigkeit sich noch in Grenze hält, ist es auch wunderbar, wenn fremde Läufer auf uns reagieren und uns ansprechen. Trotzdem kann ich nicht immer auf Empfang sein. Es ist äusserst anstrengend, nonstop auf Alarmbereitschaft zu sein. Darum mag ich es immer sehr, wenn es einfach ruhig ist. Nur den Klang einer Läuferherde zu hören, ist faszinierend – dieses Getrampel. Rundherum nichts als Schritte. Dann ist spürbar, wie alle fokussiert sind, auf ihren Gang, auf ihr Rennen. Das vermittelt mir ein extremes Gemeinschaftsgefühl.
«Wenn wir im Gleichtakt laufen, entsteht dieser Doppelflow – das ist etwas ganz Besonderes und Wertvolles.»
Wird es zäh, hänge ich – wie sehende Läufer auch – meinen Gedanken nach. Hangle mich von einem Kilometer zum nächsten. Rufe schöne Lauferinnerungen ab oder Erlebnisse, die mich beflügeln. Male mir aus, wie das alkoholfreie Bier schmeckt, das ich im Ziel runterkippe. Natürlich lasse ich meinen Guide aber meist nichts von meinem kleinen Elend wissen – so weit käme es noch. (lacht) Dann setze ich mein Pokerface auf und mache gute Miene zum bösen Spiel. Weil ich langsamer werde, merkt mein Begleiter aber ohnehin, dass ich nicht mehr taufrisch bin.
Die körperliche Anstrengung ist bei mir aber nur das eine. Meist macht mir die mentale Belastung gegen Ende viel mehr zu schaffen. Ich spüre im Kopf eine extreme Müdigkeit – wegen der ununterbrochen nötigen Konzentration, all der Wahrnehmungen und des Herausfilterns von wichtigen Informationen. Dann muss ich ein wenig abbremsen, mich mental wieder sammeln. Es hilft mir dann, zu zweit zu sein: Wenn wir im Gleichtakt laufen, entsteht dieser Doppelflow – das ist etwas ganz Besonderes und Wertvolles, gerade zum Schluss hin. Das ist ein Vorteil, wir sind zu zweit im Kampf gegen den Hammermann.

Auf den allerletzten Kilometern gibt es doch für alle nur noch eines: Einfach nur fertig laufen. Für mich heisst es dann, noch einmal die verbliebene Konzentration zu mobilisieren, damit der Marathon nicht mit einem Stürchler oder gar einem Sturz endet. Die letzten paar Hundert Meter sind besonders anspruchsvoll. Sie sind eine Extrembelastung für uns beide, weil die vielen Zuschauer hier oft für ein Geräuschcrescendo sorgen und wir ausgelaugt sind. Oft ist es so, dass ich die Anweisungen meines Guides gar nicht mehr höre, und wegen der Müdigkeit ist es für mich dann auch schwierig, auf seine Körpersprache zu horchen.
Und für sehende Läufer wohl unvorstellbar: Der magisch-erlösende Schritt über die Ziellinie, den merke ich meist gar nicht. Klar, irgendwann bremst mein Guide, dann sind wir aber bereits durch. Ich bin nachher mental erschöpft, habe eine Leere im Kopf, manchmal wird es mir sogar schwindlig nach den letzten, so hoch konzentrierten Kilometern. Die Seele hinkt wohl ein bisschen hinterher, denn erst dann kommt das grosse Wow-Gefühl! Und natürlich die Frage: Wie lange haben wir gebraucht?»
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