Kolumne «Miniatur des Alltags»«Meine» Möwe Jonathan
Wenn alles zu viel wird, ist vielleicht zwischendurch ein Abflug nötig. Das macht Jonathan gestressten Fährenpendlern immer wieder vor.

Für mich heisst sie Jonathan. Die Möwe, die nicht immer, aber sehr oft auf dem einen Pfosten der Fährenanlegestelle in Meilen sitzt, wenn ich mit der Fähre in Meilen ankomme. Jonathan schaut in der Regel seeaufwärts und scheint willens, die einlaufende Fähre zu ignorieren. Ganz gelingt es ihm jedoch nicht. Er dreht den Kopf dann halb zur Fähre hin, legt ihn schief, der Blick skeptisch.
Wenn das je nach Kapitän und dessen Tagesform sanftere oder weniger sanfte Anlegemanöver beginnt und die Fähre gegen den Anlegepoller stösst, beginnt Jonathan hin- und herzutippeln. Zuerst scheint es eher ein Hin-und-her-Wiegen, dann wächst es sich aus zu einem Hin-und-her-Gehen. Fasziniert schaue ich ihm jeweils zu. Irgendwie hoffe ich immer, dass Jonathan durchhält, sich nicht vertreiben lässt. Die ersten Auto-, Töff- und Lastwagenmotoren, die zu brummen anfangen, übersteht er meist noch. Aber spätestens wenn sich die Barriere öffnet, gibt es kein Halten mehr – die Möwe öffnet ihre Flügel und hebt ab. Nicht hektisch und schreiend, sondern still und leise, in formvollendeter Eleganz. Wie die Möwe Jonathan aus dem gleichnamigen Buch eben.
So gross jeweils in der Sekunde vorher noch mein Wunsch war, die Möwe möge durchhalten, so gross ist in diesem Augenblick immer meine Freude. Jonathan weiss, wann es ihm zu viel wird. Dann geht er. Ich weiss nicht, wie weit er fliegt, ich weiss nicht, was er auf seiner Runde alles macht. Was ich aber weiss, ist, dass er meistens wieder dasitzt, wenn ich das nächste Mal mit der Fähre von Horgen nach Meilen fahre. Und wie auch immer mein Tag war: Jonathan zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.
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