Abo Viktor Röthlin: Folgen des Profisports«Mein Herz schlägt plötzlich 230-mal pro Minute – das macht Angst»
Der frühere Marathonläufer schildert, wie sich sein Körper seit dem Rücktritt veränderte, welcher Schaden blieb, wie gross die Lust auf Schokolade ist – und was ein Salatbuffet bei ihm auslöst.

Sie haben sich acht Jahre nach Ihrem Rücktritt erneut so testen lassen wie zu Ihren Profizeiten. Was ist herausgekommen?
Dass sich das gleiche Lauftempo nun viel härter anfühlt als früher. Das ist gut so – würde ich dieselbe Geschwindigkeit noch immer als gleich intensiv empfinden, wäre ich ein schlechter Profi gewesen. (lacht)
Was haben Sie noch über sich erfahren?
Zugleich erinnert sich mein Körper an ganz hohe Laufgeschwindigkeiten, obschon ich mittlerweile nur noch in einem Schnitt von vier bis sechs Minuten pro Kilometer renne. Früher waren es über einen ganzen Marathon drei Minuten pro Kilometer.
Aber?
Ich konnte die letzte Teststufe beenden, eine Geschwindigkeit von fast 20 km/h. Das hat mich überrascht. Ich dachte: Es wird mich bei diesem Tempo vom Laufband spicken, zumal dieser Speed für mich auch koordinativ nun ungewohnt ist. Aber mein Körper erinnerte sich auch nach all den Jahren an diese Tempi.
«Jetzt bin ich froh, wenn ich nicht vom Laufband fliege, früher war diese Leistung für mich normal.»
Woher kommt Ihre Neugier am Vermessen beziehungsweise Dokumentieren?
Ich will wissen, was mit meinem Körper passiert. Der erste Impuls ist also: Interesse. Der zweite: Ich hatte 2009 eine Lungenembolie und will darum im Bild darüber sein, was mit meinem Herz-Lungen-Kreislaufsystem über die Jahre passiert, darum auch ein regelmässiger Check-up. Ich bin also nicht einfach heiss auf Daten. Der gesundheitliche Aspekt ist mir wichtig.
Mittlerweile vermögen Sie noch 1000 m im Tempo zu laufen, in dem Sie früher 42’000 m schafften. Wie gehen Sie damit um?
Jetzt bin ich froh, wenn ich nicht vom Laufband fliege, früher war diese Leistung für mich normal. Es zeigt also, wozu Körper fähig sind, wenn sie ganz gezielt trainiert werden. Ich staune immer wieder darüber, was wir Menschen leisten können, wenn der Fokus zu 100 Prozent darauf liegt. Zugleich tut es gut, zu sehen: Dieser Leistungspeak ist endlich.
Macht Sie das wehmütig?
Nein. Ich bin dankbar für meine Karriere. Ich investierte brutal viel und wurde reich belohnt. Zudem konnte ich selber über mein Ende entscheiden, hörte mit einem 5. Platz an der EM von 2014 auf – also auf hohem Niveau. Das war mir wichtig. Der Moment des Rücktritts stimmte für mich persönlich.
Welchen Aspekt Ihrer Leistungsfähigkeit büssten Sie am schnellsten ein?
Das Stehvermögen. Ich habe es auch nie mehr trainiert.
Was hat sich sonst verändert?
Ich habe deutlich weniger Kraft, ermüde schneller. Geblieben ist die Grundbasis der Ausdauer. Im Vergleich zu anderen 47-Jährigen kann ich noch immer länger laufen.
Wie hat sich Ihr Körper seit dem Rücktritt verändert?
Ich kontrollierte als Profi immer mittels Waage, damit ich nicht zu leicht wurde. Ich trainierte so viel, dass ich aufpassen musste, meine 60 kg halten zu können (auf 1,72 m, die Red.). Ansonsten hätte mir die Substanz für die Belastungen gefehlt. Mittlerweile brauche ich die Waage als Kontrolle, damit ich nicht zu schwer werde.
«Plötzlich wurde mir die Hose an den Beinen zu weit, weil ich Muskeln verlor. Das Gewicht blieb aber gleich.»
Sie wiegen inzwischen knapp 65 kg.
Was ich feststellte: Plötzlich wurde mir die Hose an den Beinen zu weit, weil ich Muskeln verlor. Das Gewicht blieb aber gleich. Man kann also leicht ableiten, was passiert ist.
Sie legten – Pardon – an Fett zu.
Genau. Ich verlor Muskelmasse, habe dafür mehr Fett an mir. Dieser Umbau dauerte circa sechs Jahre. Mittlerweile verliere ich keine Muskelmasse mehr, kann den Zustand halten – auch dank des Sports.
Haben Sie sich ein Gewichtslimit gesetzt?
Ja, so 65 kg passen, sonst interveniere ich.

Wie hat sich Ihr Essverhalten verändert?
Es ist krass, wie wenig ich im Vergleich zu früher esse – und auch brauche. Früher ass ich sehr viel Süsses, gern Schokolade. Ich verbrannte so viele Kilokalorien, da war das kein Problem. Die Lust nach Schokolade ist noch immer gleich gross, aber der Kalorienumsatz viel tiefer. Ich muss mein Impulsverhalten also im Griff haben, was nicht immer einfach ist.
Wie viele Kilokalorien assen Sie früher pro Tag – und wie viele sind es heute?
Ich habe sie nie gezählt, sondern immer über die Waage mein Gewicht kontrolliert. Ich wollte mit Lust essen und kein Verhalten entwickeln, bei dem ich ständig übers Essen nachdenken musste. Es sollte auch als Profi möglichst natürlich sein.
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Sie haben also nie ein pathologisches Verhältnis zum Essen entwickelt – wie viele Topathleten?
Nein. Aber ich hatte diesbezüglich auch Glück. Ich esse beispielsweise sehr gern Salat, vermisste ihn in Trainingsaufenthalten in Kenia oft. Gesund zu essen, war für mich nie ein Zwang. Mich machte nach den Kenia-Aufenthalten ein Salatbuffet glücklich – übrigens auch heute noch. Das fand meine Frau immer seltsam. (lacht)
Viele Profis wollen nach dem Ende erst einmal Abstand von ihrem Sport. Wie hielten Sie es mit dem Laufen?
Ich brauchte keinen Abstand, bin immer gelaufen und bewege mich weiterhin fast täglich. Das ist einfach in mir drin – und schafft neben Job und Familie eine Insel für mich. Früher war ich als Profi über Stunden für mich allein, was mir sehr behagte. Ich brauche diese Zeit für mich, im Sport finde ich sie und bin darum bereit, mich bei anderen Aspekten einzuschränken.
Leiden Sie an Folgen von über 20 Jahren Spitzensport?
In Bezug auf den Bewegungsapparat: nein. Ich hatte bei Umfängen von bis zu 220 km die Woche natürlich Gelenkschmerzen. Sie verschwanden circa anderthalb Jahre nach meinem Rücktritt. Was ich aber als Spitzensportler entwickelte, so mit 23, 24 Jahren, sind Arrhythmien im Herz. Sie sind geblieben.
Das heisst?
Mein Herz beginnt plötzlich viel, viel schneller zu schlagen. Also 230-mal pro Minute. Das fühlt sich sehr unangenehm an und macht Angst. Man findet die entscheidende Stelle nicht, um die richtigen Leitungsbahnen zu veröden.
«Ich habe als Athlet nie davon erzählt und immer gehofft, keine Episode just vor einem Wettkampf zu haben.»
Wann treten diese Episoden auf?
Das kann im Prinzip immer passieren. Ich habe als Athlet nie davon erzählt und immer gehofft, keine Episode just vor einem Wettkampf zu haben. Denn in dieser Zeit bist du nicht leistungsfähig. Wissen muss man: Viele Top-Ausdauer-Athleten haben dieses Problem.
Wie lange dauert eine Episode?
Wenige Minuten bis 30 Minuten. Das Gefühl ist wirklich, sorry: scheisse. Wenn es vor einem Training passierte, legte ich mich hin und verschob die Einheit auf den nächsten Tag. Ich hoffte, diese Probleme würden nach dem Ende der Karriere verschwinden, ich irrte mich leider – und muss nun damit leben, solange die Problemstelle nicht eruier- und behandelbar ist.
Ihr Leben war durch Leistung definiert. Stoppen Sie die Zeit beim Laufen noch?
Ja, weil ich wissen will, wie weit ich komme. Ich lächle jedoch über mich: Die Runden bleiben gleich lang, ich aber brauche immer länger dafür. Manchmal irre ich mich. Kürzlich im Engadin sagte ich zu meiner Frau, ich laufe um den St. Moritzersee und sei in 30 Minuten zurück. Es waren dann 45 Minuten. Im Grundsatz aber habe ich kein Problem damit, dass ich immer langsamer werde.
Und wenn Sie beim Laufen überholt werden, was Ihnen als Profi so gut wie nie passierte?
Ich lief jüngst den steilen, einige Hundert Meter langen Aargauerstalden nahe dem Bärengraben hoch. Vor mir startete eine junge Frau. Ich war mir sicher, sie einzuholen. Aber sie lief mir eher davon. Im ersten Moment war ich etwas irritiert, der alte Profireflex hatte mich erwischt.
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