Folge des BrexitMeiden britische Musiker bald die Schweiz?
Viele Künstlerinnen und Bands aus Grossbritannien stehen vor grossen Problemen, wenn sie in EU-Ländern auftreten wollen. Erste ziehen drastische Konsequenzen – werden sie auch Konzerte in der Schweiz betreffen?
Thom Yorke, Sänger der Band Radiohead, setzte kürzlich folgenden Tweet ab: «Wow. Rückgratlose Arschlöcher. Wow.»
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Es war sein Kommentar zur neusten schlechten Nachricht: Der Independent hatte berichtet, die Londoner Regierung habe ein Angebot der EU abgelehnt, britischen Musikern auch in Zukunft visafreien Zugang für Touren zu gewähren. Das wurde zwar von der Regierung umgehend dementiert. Was nun stimmt, ist aber erst einmal unklar.
Klar ist: Die Freizügigkeit für Personen innerhalb der EU, die es jedem EU-Bürger erlaubte, seinen Wohn- und Arbeitsplatz innerhalb der Staatengemeinschaft frei zu wählen, war bei Brexit-Befürwortern immer unbeliebt gewesen. Nun endete sie am 31. Dezember. Damit habe man «die Kontrolle über die eigenen Grenzen» zurückerobert, sagte Innenministerin Priti Patel. Doch umgekehrt bedeutet dies auch, dass es, wenn Livekonzerte wieder möglich sind, für britische Bands und britische Orchester viel komplizierter, aufwendiger und teurer sein wird, in der EU aufzutreten.
Musiker fürchten Zollbeschränkungen
Bisher konnten Musikgruppen von der Insel unbegrenzt lange mit ihren eigenen Fahrzeugen und ihrem eigenen Equipment durch die EU Touren. Was an die Stelle dieser Freizügigkeit treten wird, weiss bislang niemand genau. Werden Zollbescheinigungen für Instrumente nötig? Gelten die 90 Tage visafreien Reisens für Briten in der EU auch für Touren, wie Premierminister Boris Johnson vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss behauptete?
Eine Online-Petition, mit der die Regierung bewogen werden soll, unbegrenzt visafreien Zugang für britische Musiker mit der EU auszuhandeln, hat bisher knapp 262'000 Unterzeichner. Doch die Debatte greife viel zu kurz, findet Craig Stanley, ein englischer Promoter und Eventmanager, der sich als Vorsitzender des Interessenverbandes «Live Touring Group» der Lösung von Brexitproblemen für die britische Livemusik-Industrie widmet.
Wenn der Livebetrieb irgendwann nach der Corona-Unterbrechung wieder losgehe, werde das visumfreie Reisen nur eine von vielen Herausforderungen sein. «Tourende britische Bands werden jetzt in vielen Ländern der EU eine Arbeitserlaubnis brauchen, um überhaupt auftreten zu dürfen.» Dies sei von Land zu Land verschieden, daher sei eine zentrale Lösung in Brüssel gar nicht möglich.
Auch die Kabotage, das Recht britischer Lastwagen, in der EU Tour-Ausrüstung von Auftrittsort zu Auftrittsort zu transportieren, ist stark eingeschränkt: «Wir dürfen mit unseren Zugmaschinen nur noch maximal drei Orte anfahren, dann muss eine Zugmaschine mit EU-Registrierung übernehmen», erklärt Stanley. Das werde zu immensen zusätzlichen Logistikkosten führen. Gerade junge Bands, die bisher mit dem eigenen Bus zu wichtigen kontinentalen Festivals fuhren und nur offene Grenzen kannten, würden angesichts dieser Kosten und des Verwaltungsaufwands zu kämpfen haben.
Der EU-Ausstieg werde zudem einen künstlerischen «Brain Drain» aus Grossbritannien zur Folge haben, prophezeit der Experte.
Bedingungen, an die Jasper Parrott sich aus der Zeit vor dem britischen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft noch erinnert. Der 76-Jährige ist Mitbegründer der Klassik-Managementagentur Harrison Parott, die sich sowohl um internationale Solisten kümmert als auch Touren für Ensembles und grosse Orchester wie das London Symphony Orchestra organisiert.
Er arbeitet schon so lange im Musikbusiness, dass er aus eigener Erfahrung weiss, welch ein Papierkrieg früher zu bestreiten war, wenn britische Musiker auf dem Kontinent auftreten sollten. «Seit wir in der EU waren, haben britische Orchester erfolgreich ein sehr flexibles System betrieben, innerhalb dessen man oft nur für einen Tag zum kontinentalen Auftrittsort flog, spielte, am nächsten Tag nach England zurückflog und am Abend dort auftrat. Das wird mit den neuen Vorläufen nicht mehr möglich sein.»
Parrott vergleicht den Effekt der durch den Brexit entstehenden Verzögerungen mit dem auf den britischen Fischexport: «Der Fang muss frisch ausgeliefert werden. Wenn er wegen Grenzkontrollen oder Formalien ein paar Stunden zu lange herumliegt, kann man ihn in den Abfall werfen. Das geschieht gerade. Genauso wird ein riesiger Abfallberg künstlerischer Kreativität entstehen, weil wir nicht mehr ungehindert reisen können.» Der Vergleich ist deshalb interessant, weil gerade die britische Fischerei den Brexit-Befürwortern immer mehr am Herzen gelegen hat als die Künste, obwohl die fischverarbeitende Industrie nur 774 Millionen Pfund im Jahr erwirtschaftet, die Künste aber 84 Milliarden.
Simon Rattle schon umgezogen
Der EU-Ausstieg werde zudem einen künstlerischen «Brain Drain» aus Grossbritannien zur Folge haben, prophezeit Jasper Parrott. Schon infolge der Corona-Pandemie haben viele britische Musiker ihren Beruf gewechselt, arbeiten jetzt in Supermärkten oder als Pfleger. Der Brexit wird aber nach Parrotts Ansicht dazu führen, dass die, die weiter als professionelle Musiker arbeiten wollen, ihrer Heimat den Rücken kehren und in Europa Arbeit suchen.
Spektakulärstes Beispiel hierfür ist sicher der angekündigte Umzug Simon Rattles nach München und seine Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft. Und viele Orchestermusiker werden laut Parrott folgen. «Ein Verlust für Grossbritannien, ein Gewinn für kontinentaleuropäische Orchester», sagt er.
Die Fagottistin Georgina Powell aus Manchester hat diesen Schritt bereits vollzogen. Sie wohnt seit 2020 in Essen. Die 29-Jährige studierte an der Londoner Guildhall School of Music and Drama, setzte ihre Ausbildung in den Niederlanden fort und hat in so renommierten Orchestern wie dem BBC Symphony Orchestra und dem Hallé Orchestra gearbeitet. Die Pandemie leerte ihren sonst gut gefüllten Kalender als freischaffende Musikerin, in dem vorher beispielsweise noch die BBC Proms gestanden hatten. Der Brexit liess sie ihr Verhältnis zu Grossbritannien neu überdenken.
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«Es ist furchtbar, dass es dieser Minderheit korrupter Politiker gelungen ist, beim Referendum eine knappe Mehrheit für ihre Zwecke einzuspannen», sagt sie. «Jetzt haben wir plötzlich den Ruf einer sich nach aussen abschottenden Nation. Dabei war die britische Musikszene immer eine der weltoffensten überhaupt.»
Insgesamt gibt es ganz offensichtlich noch einiges an Unwissen über die Risiken des Brexit.
Powell hatte eine irische Grossmutter und besitzt daher seit 2018 neben der britischen auch die irische (und damit eine EU-) Staatsbürgerschaft. Derzeit nutzt sie die coronabedingt maue Auftragslage, um an der Folkwang-Universität der Künste ihren Master-Abschluss zu vervollständigen. Dazu war sie bisher nicht gekommen, weil sie schon früh so gefragt gewesen war, dass sie der praktischen Arbeit zunächst Vorrang vor dem akademischen Abschluss einräumte. Beruflich möchte sie in Deutschland Fuss fassen und bewirbt sich nun um freie Stellen im ganzen Land, von denen im vergangenen Jahr wegen der Pandemie mehr als gewöhnlich unbesetzt blieben.
Die Corona-Pause nutzen
Es wird interessant sein, zu sehen, in welchem Umfang die Orchester in Europa und der Schweiz diese unverhoffte Erweiterung des Talentpools nutzen, die sich ohne den Brexit nie ergeben hätte. Insgesamt scheint es EU-seits jedenfalls noch einiges an Unwissen über Chancen und Risiken des Brexit zu geben. Nach Einschätzung Craig Stanleys von der Live Touring Group sollten die europäischen Konzertveranstalter die Corona-Pause daher nutzen, um sich genauestens mit den neuen Bestimmungen vertraut zu machen. «Um die Arbeitserlaubnis für Nicht-EU-Ausländer muss sich zum Beispiel der Arbeitgeber kümmern», erklärt er. «Das sind in unserem Fall nicht wir Briten, sondern die örtlichen Promoter.»
Nicht alle britischen Musiker sind übrigens so erbost über den Brexit wie Thom Yorke. Roger Daltrey von The Who, ein Fan des EU-Ausstiegs, antwortete auf die Frage eines Fernsehreporters, ob sich die Tour-Bedingungen verschlechtern würden: «Als wären wir nicht auch schon durch Europa getourt, bevor es die beschissene EU gab!»
Jasper Parrott, exakter Altersgenosse des Sängers, reagiert mit ironischem Understatement: «Nun ja», sagt er. «Es könnte sein, dass jemand Mr. Daltrey damals den Papierkram und die Tourplanung ein bisschen abgenommen hat.»
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