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Medienpsychologe im Interview
«Es gibt Menschen, die jetzt an eine Belastungsgrenze kommen»

epa10923612 Relatives mourn near the graves of five family members of the Kutz family during their funeral in Gan Yavne, Israel, 17 October 2023. The five family members: parents Aviv and Livnat and their three children Rotem, Yonatan and Iftach were killed in a Hamas militant attack in their house in Kibbutz Kfar Aza on 07 October 2023. More than 2,750 Palestinians and 1,300 Israelis have been killed according to the IDF and Palestinian health ministry, after Hamas militants launched an attack against Israel from the Gaza Strip on 07 October. EPA/ABIR SULTAN
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Herr Süss, täuscht der Eindruck, oder erreichen uns aus Israel und dem Gazastreifen derzeit noch brutalere, noch ungefiltertere Informationen als in früheren Konflikten?

Es gibt dazu – so kurz nach der Gewalteskalation – natürlich noch keine Daten. Der Eindruck ist aber plausibel. Soziale Medien wie Tiktok, Instagram oder Twitter spielen als Quelle für Echtzeitnachrichten eine immer grössere Rolle. Nach den Terrorangriffen der Hamas kursierte rasch eine unüberschaubare Zahl an Bildern und Videos aus den betroffenen Gebieten. Während sich traditionelle Medien im Umgang mit Schockbildern in der Regel an die Richtlinien des Presserats halten, fehlt ein solch ethischer Rahmen auf Social Media weitestgehend.

Das Massaker an einem Festival, getötete Babys, verschleppte Grossmütter: Fast alles wird in den sozialen Medien in Echtzeit dokumentiert, einiges auch von klassischen Medien aufgegriffen. Was macht das mit uns?

Wie Menschen mit solch schrecklichen Nachrichten und Bildern umgehen, ist individuell verschieden. Eine Tatsache ist, dass sich der Terror in Israel zu einem Zeitpunkt ereignet, zu dem ein grosser Teil der Gesellschaft bereits überdurchschnittlich besorgt und belastet ist durch negative Nachrichten. Die Zeit der Pandemie hat vielen Menschen zugesetzt, danach folgte nahtlos der Ukrainekrieg – und jetzt also die Gewalteskalation im Nahen Osten. Es gibt Menschen, die dadurch an eine Belastungsgrenze kommen.

Inwiefern?

Diese Menschen merken, dass all die negativen Nachrichten, die auf sie einprasseln, ihre persönlichen Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigen. Sie verspüren das Bedürfnis, sich zu schützen und abzugrenzen. Eine Folge kann sein, dass sie den Konsum von News gänzlich vermeiden, um nicht noch mehr schrecklichen Nachrichten ausgesetzt zu sein. (Lesen Sie hier, wie unsere Leserinnen und Leser mit der Situation umgehen.)

Können Sie es diesen Menschen verübeln?

Nein. Ein gewisser Selbstschutz ist richtig und wichtig. Gleichzeitig ist es für die demokratische Meinungsbildung zentral, dass sich die Leute informieren und informiert bleiben. Insofern muss jede einzelne Person im Sinne einer Medienkompetenz abwägen: Was vertrage ich? Was brauche ich, um mir eine Meinung zu bilden? Und wo mündet das Informiertbleiben in einer Überforderung?

Wie kann es mir als Medienkonsumentin gelingen, eine sinnvolle Balance zu finden?

Ein möglicher Vorsatz wäre, auf permanente News-Updates zu verzichten und sich stattdessen einmal pro Tag eingehend zu informieren. Viele von uns sind ständig in den sozialen Medien unterwegs, scrollen von einer schlechten Nachricht zur anderen. Dieses «Doom Scrolling» nimmt unsere Aufmerksamkeit so gefangen, dass wir unter Umständen an kaum mehr etwas anderes denken können. Es ist wichtig, solche Gewohnheiten zu hinterfragen. In unseren Studien mit Jugendlichen sehen wir häufig andere Möglichkeiten, wie Menschen à jour bleiben. Etwa im persönlichen Gespräch mit Familie und Freunden. Man muss nicht alles selbst mitverfolgen.

Eine andere Strategie wäre Eskapismus: Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mir am Abend gezielt seichte Netflix-Serien anschaue, um mich nicht mit dem Leid da draussen beschäftigen zu müssen?

Es kann sinnvoll sein, in gewissen Momenten das eigene Wohlbefinden in den Mittelpunkt zu stellen und sich von Ereignissen abzulenken, auf die man selbst keinen direkten Einfluss hat. Falsch wäre es aber, in eine Verdrängungshaltung zu kommen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu leugnen. Wir können uns an Wahlen beteiligen, wir können Hilfswerke unterstützen – und so unseren kleinen Beitrag leisten.

«Die Forschungsresultate zur Wirksamkeit von Triggerwarnungen sind eher ernüchternd.»

Nicht nur auf Social-Media-Plattformen, auch in gewissen internationalen Medien waren zuletzt sehr explizite Bilder zu sehen. Eine britische Zeitung zeigte Fotos getöteter Babys. Gibt es legitime Gründe, so etwas abzudrucken?

Die Frage ist: Was könnte der Mehrwert gegenüber einer beschreibenden Berichterstattung sein? In einer solchen Situation haben wir in einer Waagschale das Informationsbedürfnis, in der anderen die Würde der Getöteten und ihrer Angehörigen. Ich sehe in diesem Fall keinen Grund, die Fotos zu zeigen. Allerdings muss von Fall zu Fall entschieden werden. Es gab 2015 eine grosse Debatte über ein ikonisches Foto, das einen ertrunkenen dreijährigen Flüchtlingsbub am Strand zeigte. Für viele war die Veröffentlichung damals legitim, weil das Bild die Prägnanz hatte, das ganze Elend der Flüchtlingstragödie zum Ausdruck zu bringen.

Selbst die Beschreibung von Gräueltaten kann Menschen nachhaltig verstören. Braucht es Triggerwarnungen vor Medienberichten? «Achtung: brutal»?

Es gibt Forschung zur Wirksamkeit von Triggerwarnungen. Die Resultate sind eher ernüchternd: Gerade Jugendliche finden Inhalte, die mit solchen Warnungen versehen sind, unter Umständen besonders spannend. Es scheint mir deshalb zielführender zu sein, wenn die Redaktionen sorgfältig entscheiden, was sie ihrem Publikum zumuten wollen.

«Konstruktiver Journalismus ist unabdingbar. Damit man nicht im Gefühl der Hilflosigkeit versinkt.»

Wie kann es den Medien gelingen, in Krisenzeiten umfassend zu informieren, ohne die Menschen mit all den negativen Schlagzeilen abzustossen?

Wichtig erscheint mir, dass bei schnellen und dramatischen Vorkommnissen nicht nur Ereignisberichte geliefert werden, sondern auch Einordnung. Es gilt, das grosse Bild zu zeigen, die Zusammenhänge zu erklären. Die Schweizer Qualitätsmedien machen das im Grossen und Ganzen gut.

Seit Jahren redet man in der Branche von konstruktivem Journalismus, der positive Ansätze und Lösungen ins Zentrum stellt. Doch solche Projekte haben es schwer. Auch weil sich die Leserschaft erwiesenermassen stärker für negative News interessiert.

Das ist mit unserer Evolution zu erklären. Es war für die Menschen seit je fataler, ein Risiko zu unterschätzen, als es zu überschätzen. Wir sind biologisch darauf programmiert, beim Rascheln im Wald ein wildes Tier zu vermuten und es nicht als harmlos abzutun. Und trotzdem halte ich den konstruktiven Journalismus für unabdingbar. Damit nicht der Eindruck entsteht, die Welt werde immer schlechter und man in einem Gefühl der Hilflosigkeit versinkt. In vielen Bereichen ist ja das Gegenteil der Fall, denken wir nur einmal an die gesunkene Kindersterblichkeit.

Kürzlich machte Bundesrat Ignazio Cassis mit der Aussage Schlagzeilen, er lese keine Zeitungen mehr. «Sie sind nicht gut für mich.» Wie beurteilen Sie die Aussage?

Bundesrat Cassis dürfte in der privilegierten Situation sein, dass ihm sein Medienteam und sein Stab die relevanten Informationen verdichtet zur Verfügung stellt. Natürlich kommt er so ohne Zeitungen aus. Aber das Signal, das er mit dieser Aussage an die Bevölkerung aussendet, finde ich problematisch.