Max Küngs Jahresgespräch mit dem Velo«Max, ich möchte mehr raus, auf die Strasse!»
Das Rennrad unseres Kolumnisten steht im Keller – und beschwert sich.
«Ein jeder Chef hat einen Lieblingsmitarbeiter oder eine Lieblingsmitarbeiterin, ich weiss das, weil: Ich hab ja auch einen Chef.» – «Aha.» – «Und du, liebes Velo, bist mein Lieblingsmitarbeiter, noch vor dem Plattenspieler und dem Kochherd. Noch vor dem Auto und dem Rotweinglas.» – «Aha.» – «So viel Schönes haben wir in diesem Jahr zusammen erfahren … im wörtlichen Sinn: erfahren!» – «Na ja.» – «Ich höre Widerspruch?» – «Ich stehe nicht so auf laue Wortspiele. Und sowieso stand ich die meiste Zeit hier im Keller. Auf der Rolle! Einer Rolle, die mir nicht gefällt.» – «Ja, ich weiss, aber wir haben zusammen 5000 Kilometer geschafft in diesem Jahr.» – «4838,4 Kilometer waren es, und die meisten davon im Keller, eigentlich peinlich, dass du diese Kilometer rechnest.» – «Schweiss ist Schweiss. Ausserdem ist es doch schön, hier im Keller.» – «Manchmal habe ich das Gefühl, du hast den Velocomputer lieber als mich.» – «Wie kommst du darauf?» – «Du starrst ihn immer so an!» – «Sorry, aber Gümmeler sind halt ein bisschen zahlenfixiert. Ein kluger Kopf hat mal gesagt, Zahlen seien erfunden worden, damit Männer überhaupt miteinander kommunizieren können. Weil: Gefühle sind Gefühle, unberechenbar und zudem schwer zu verbalisieren. Zahlen aber sind absolut. Verbindliche und vergleichbare Werte.»
«Max, ich möchte mehr raus, auf die Strasse!» – «Ich auch, liebes Velo. Nichts ist schöner, als mit dir draussen zu fahren. Aber heute regnet es. Und es ist kalt.» – «Mir doch egal.» – «Ich verspreche dir: Im nächsten Jahr fahren wir zusammen von Andeer hoch nach Juf! Da ist die Luft dünn, die Landschaft herrlich, die Strasse ein Traum.» – «Hast du schon im letzten Jahr gesagt.» – «Ja, es kam halt einiges dazwischen. Geldverdienen beispielsweise.» – «Und vorletztes Jahr hast du schon von Juf geschwafelt.» – «Ich verspreche dir: Wir fahren nach Juf! Und endlich auch auf die Grosse Scheidegg! Und wieder mal auf den Pragelpass. Pragel! Schon nur dieser Klang! Ein Prügel von einem Namen!» – «Ja, ja …» – «Du bist unzufrieden, das verstehe ich, auch ich bin von diesem Jahr etwas enttäuscht. Aber vertraue mir. Es kommen andere Zeiten.» – «Das sagst du jetzt, dann aber sitzt du im bequemen Sofa und studierst diese Bilderbücher, ‹Epic Climbs› und solche Schinken … diese Pornos für Gümmeler.» – «Das ist Inspiration für unsere gemeinsame Zukunft!» – «Ich hätte lieber eine gemeinsame Gegenwart.» – «Du wirst sie bekommen. Aber sag, wo möchtest du denn hin?» – «Kolumbien! Alto de Letras. 80 Kilometer. 4163 Höhenmeter.» – «Ich denke nicht, dass wir in nächster Zeit nach Kolumbien kommen …» – «Gut, dann im März Toskana, Strade Bianche, die grosse Runde.» – «Schon realistischer.» – «Und nach Juf! Mit Maurice und seinem Colnago.» – «Abgemacht!» – «Sonst kommst du in die Hölle, Max! Und ich will neue Pneus und einen Vollservice inklusive Antriebsreinigung mit Schaummassage. Und Kettenwaxing!»
Damit war das Jahresgespräch mit meinem Fahrrad beendet. Ich löschte das Licht und verliess den Keller. Doch ich hielt inne, die Klinke noch in der Hand, denn mir war, als hörte ich hinter der geschlossenen Türe das Velo mit dem Staubsauger reden. Es klang wie Klagen auf niedrigem Niveau. Und da fiel mir ein, dass die Wohnung wieder mal gesaugt werden müsste. Aber morgen war ja auch noch ein Tag. Und nächstes Jahr sowieso.
Max Küng ist Reporter bei «Das Magazin».
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