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Max Küng schreibt auf Filpcharts
Gymi-Aufnahmeprüfung und Haustiere

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Es war kurz nach Mitternacht, als ich sie sah. Halb im Licht einer Strassenlaterne stand sie an einer Strassenecke an eine Mauer gelehnt, als wäre sie betrunken und suchte Halt für einen Moment, bis es weiterging auf ihren drei dünnen Beinen: eine Flipchart. Und sie war voll! Von unten bis oben dicht beschrieben, mit Filzstift und Vorsätzen, die jemand notiert hatte, um sie sich stets vor Augen zu führen.

Es ging dabei um kleinere und grössere Schritte hin zu einem besseren Leben: gesündere Ernährung, täglich Sport, mehr sinnvolle Dinge unternehmen, mehr Zeit für sich und aber auch andere sowie mehr Disziplin bezüglich Arbeit. Ein Manifest der Selbstoptimierung. Allesamt löbliche und erstrebenswerte Dinge, doch in ihrer Fülle wohl nur schwer erreichbar. Kein Wunder, so dachte ich, hat es die Flipchart bei ihrem Besitzer oder ihrer Besitzerin nicht mehr ausgehalten und ist abgehauen.

Die Flipchart, dieses Gestell mit Papierblock, dessen Blätter nach oben umgeschlagen werden können, ist übrigens ausgesprochen zeitgemäss, denn sie hat nicht nur drei Beine, sondern auch drei Geschlechter. Der sonst so strenge Duden zeigt sich von seiner grosszügigsten Seite. Die Flipchart. Der Flipchart. Das Flipchart. Alles richtig, sagt der Duden, alles geht. Flipchart ist genderfluid.

Es existieren manche Begriffe mit drei Geschlechtern, doch diese Begriffe wandeln ihre Bedeutung: Der Single ist nicht die Single und schon gar nicht das Single. Ersterer beschreibt einen ungebundenen Menschen, Zweiteres eine längst aus der Mode gekommene Kleinformat-Schallplatte, Letzteres ein Einzelspiel zwischen zweien. Eine Flipchart ist jedoch dasselbe wie ein Flipchart – und bleibt ein Flipchart. So modern das Wort daherkommen mag: Die Flipchart hat ihre Wurzeln im alten Jahrtausend.

Erfunden wurde sie vor über hundert Jahren von einem gewissen John H. Patterson, Gründer der Registrierkassenfirma NCR und bekannt als gnadenloser Patron sowie Vater aller Verkaufstrainingsseminare, in welchen er die Flipchart einsetzte, um seinen Verkäufern den Weg zum Erfolg einzutrichtern. (Ein Wort prangte jeweils zur Begrüssung gross auf dem ersten Papierbogen: «Think!»)

Ich liess die Flipchart an der halbdunklen Ecke stehen, nahm sie nicht mit nach Hause. Denn ich besitze selber eine Flipchart. Wie hätte die sich gefühlt, wenn ich mitten in der Nacht mit einer anderen nach Hause gekommen wäre?

Meine Flipchart ist auch nicht mit Vorsätzen beschrieben. Sie steht im Esszimmer. Ich notiere darauf vor Einladungen an die erwarteten Gäste angepasste Gesprächsthemen. Dies ist eine praktische Präventivmassnahme, damit die Gäste nicht mit ihren mitgebrachten Themen den Abend ruinieren oder gar Stille heranschleicht und verweilt, weil man irgendwann nicht mehr weiss, worüber man sprechen könnte, man nur noch das Geklapper des Bestecks hört und das Mahlen der Kiefer. Ein Blick aufs Themenmenü auf der Flipchart, schon hat die Konversation wieder Schwung.

Die Themen sind breit gefächert, beim letzten Essen etwa sprachen wir unter anderem über: «Pro und Kontra Flügeltüren bei Autos»; «Fritz Zwicky aus Mollis und die dunkle Materie»; «Schätzfrage: Wie teuer war der Trüffel, den wir eben assen?»; «Skiflug-WM in Trondheim»; «Gymi-Aufnahmeprüfung»; «Kryptowährungen & NFT»; «Einfluss Mondphase auf Schlaf»; «Haustiere»; «KI».

Eigentlich seltsam, dass die Gäste noch vor dem Dessert auf ihre Armbanduhren schauten und meinten, sie müssten langsam los. Ganz und gar unverständlich.

Max Küng ist Reporter bei «Das Magazin».