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Skandal in der Formel 1
Massa wurde um den Titel betrogen – selbst der Chef gibt es jetzt zu

Trauriger Sieger: Felipe Massa gewinnt das Heimrennen in São Paulo, verliert den WM-Titel aber in der letzten Runde an Lewis Hamilton.
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Er sitzt noch im Auto, den Kopf gesenkt, dann fliessen die Tränen hinter dem Helmvisier.

Später ist Felipe Massa wieder zu sehen, jetzt munterer, kämpferisch, er klopft auf seinen Overall, dort, wo darunter sein Herz schlägt, er zeigt in die Menge unter ihm, ballt die Faust und schreit.

Der Brasilianer erlebt an diesem 2. November 2008 Emotionen wie nie in seiner Karriere als Formel-1-Fahrer. Seinen Heim-Grand-Prix hat er gerade gewonnen, das letzte Rennen des Jahres, darum der Stolz und die Entschlossenheit in seinen Augen und Gesten. Aber in der allerletzten Runde hat er eben auch den WM-Titel verloren, weil Lewis Hamilton noch an Timo Glock vorbeigekommen ist auf Rang 5. Die Dramaturgie dieser Saison will es, dass Massa mit einem mickrigen Punkt Rückstand Zweiter wird, anstatt vor Zehntausenden Landsleuten die wichtigste Trophäe seines Sports in die Höhe stemmen zu können.

Die Wunden von damals, sie wären vielleicht allmählich verheilt beim 41-Jährigen, der vor sechs Jahren bei Williams seine letzten Runden auf der grössten Bühne drehte. Wäre da nicht Bernie Ecclestone, dieser grosse Dompteur von einst im Zirkus Formel 1, der immer wieder gerne über die Vergangenheit, die Gegenwart, ja selbst die Zukunft seines Lebenswerks philosophiert, von dem er fortgejagt wurde von den neuen Besitzern aus den USA.

Der wundersame Sieg von Fernando Alonso

Also sprach der Mann, der im vergangenen Oktober seinen 92. Geburtstag feierte, jüngst mit dem Fachportal «F1-Inside». Und was er da sagte, hatte es in sich. Es geht im Gespräch um den Grand Prix von Singapur 2008. Nelson Piquet junior hat seinen Renault da in die Wand gedreht – just drei Runden nachdem Teamkollege Fernando Alonso einen ungewöhnlich frühen Boxenstopp absolvierte. Weil danach der Safety-Car auf den engen Kurs geschickt wird und die Gegnerschaft wegen des geringeren Zeitverlusts zum Nachtanken an die Garage fährt, spült es Alonso nach vorne: von Startplatz 15 zum Sieg.

Es ist ein kitschiger Ausgang des Rennens. Ein zu kitschiger. Später kommt aus: Renault-Teamchef Flavio Briatore und Technikchef Pat Symonds haben Piquet absichtlich in die Wand geschickt, um den fabulösen Triumph von Alonso zu ermöglichen. Die Verantwortlichen werden gesperrt, Renault für zwei Jahre aus der Formel 1 verbannt, Alonso aber darf seinen Sieg behalten. Auch Piquet bleibt straffrei, gilt er doch als Kronzeuge in dieser sogenannten Crashgate-Affäre.

Ausgerechnet der Brasilianer also, der während der Saison noch sagte, er drücke seinem Landsmann Massa die Daumen, denn bei einem WM-Titel «würde ganz Brasilien verrückt spielen», verdarb ebendiesem Massa den grössten Tag seines Lebens. Nach Piquets Unfall suchte nämlich auch er die Box auf, als Führender des Rennens. Doch Massa fuhr dabei zu früh wieder los, riss den Tankschlauch ab und damit ein paar Mechaniker um. Es dauerte eine Weile, bis der verkantete Schlauch entfernt werden konnte. Massa bekam auch noch eine Durchfahrtsstrafe und wurde 13. – während Rivale Hamilton auf Rang 3 fuhr. Ohne Piquets Unfall hätte es ganz anders enden können, mit vielen Punkten für Massa. Und dem WM-Titel für den Mann aus São Paulo. 

Ecclestone wollte einen Riesenskandal verhindern

Und hier kommt nun Ecclestone mit seinem jüngst gegebenen Interview ins Spiel. In diesem sagt der Brite, er und der damalige Präsident des Automobilweltverbandes (FIA), Max Mosley, hätten noch während der Saison vom Betrug erfahren. «Doch wir haben beschlossen, vorerst nichts zu unternehmen», sagt er. Auch habe er Piquet gebeten, damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. «Wir wollten den Sport schützen und ihn vor einem Riesenskandal bewahren.» Gelungen ist das mittelmässig, ja der Skandal hat durch den zugegebenen Vertuschungsversuch nun sogar eine neue Dimension erhalten.

Einst ein Herz und eine Seele: Felipe Massa mit dem damaligen Formel-1-Chef Bernie Ecclestone in der Saison 2008. 

Ecclestone sagt: «Wir hatten rechtzeitig genügend Informationen, um der Sache nachzugehen. Wir hätten den Grand Prix von Singapur annullieren müssen. Für die WM-Wertung hätte er also nie stattgefunden – und Massa wäre Weltmeister geworden statt Lewis Hamilton.» Doch da die Manipulation erst 2009 öffentlich wurde, war diese Handhabe nicht mehr möglich.

Die Statuten der FIA besagen, dass das WM-Klassement steht, sobald die Preisverleihung Ende Jahr stattgefunden hat. Massa und Ferrari verzichteten daher damals auf eine Klage. Nun aber prüft der einstige Pilot rechtliche Schritte. Gegenüber dem Fachportal Motorsport.com sagt er: «Wir gehen der Sache nach, um alles zu verstehen. Es war das Ergebnis eines Raubs, das Rennen wurde mir gestohlen, der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden. Das gab es auch schon in anderen Sportarten, etwa bei Lance Armstrong. Ihm wurde Doping nachgewiesen, und ihm wurden alle Titel aberkannt. Wo liegt da der Unterschied?»

Dieser liegt darin, dass die FIA späte Korrekturen kaum zulässt. So können Proteste nur bis 14 Tage nach dem entsprechenden Rennen eingereicht werden – beziehungsweise bis vier Tage vor der Preisverleihung des Weltverbandes. Zudem können Klagen einzig beim Internationalen Berufungsgericht (ICA) eingereicht werden, in dem Vertreter des Verbandes sitzen, was einigermassen skurril ist. Eine andere Instanz kann nicht angegangen werden.

Selbst das CAS könnte wohl nicht helfen

Zwar könnte Massa auch eine Meinung beim Internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne einholen, allerdings ist dieser für die FIA nur dann zuständig, wenn es um Dopingfälle geht. «Es gibt viele Dinge, die man nach 15 Jahren nicht mehr anfechten kann», sagt Massa. «Aber ich möchte die Situation studieren, um eine Vorstellung davon zu kriegen, was möglich ist für mich.» Die Aussicht auf Erfolg ist gering. Der Frust über die Saison 2008 und den um einen Punkt verlorenen WM-Titel dürfte in den letzten Wochen noch einmal gewachsen sein beim Mann, der vor 21 Jahren seine Karriere beim Schweizer Sauber-Team lancierte.

Ecclestone zeigt derweil späte Reue. «Mir tut Massa heute noch leid», sagt der Brite, «er gewann sein Heimrennen in São Paulo zum Abschluss und hat alles richtig gemacht. Er wurde um den verdienten Titel betrogen, während Hamilton alles Glück der Welt hatte. Heute würde ich das anders regeln.» Für ihn sei Michael Schumacher wegen dieser Geschichte noch immer alleiniger Rekordweltmeister und mit seinen sieben Titeln nicht gleichauf mit Hamilton, «auch wenn in der Statistik etwas anderes steht», sagt Ecclestone auch noch.

Der einstige Serienchef, der nie einen Hehl daraus machte, nicht allzu viel vom dunkelhäutigen Popstar der Formel 1 zu halten, dürfte dabei das Finalrennen 2021 in Abu Dhabi vergessen haben – mindestens. Damals wurden die Regeln arg strapaziert, damit Max Verstappen Hamilton den WM-Titel in der letzten Runde noch entreissen konnte und dieser mit dem achten Triumph nicht zum alleinigen Rekordmann wurde. Hamiltons Team Mercedes gab damals eine allfällige Klage übrigens auf – auch wegen der eigenartigen gerichtlichen Struktur innerhalb des Weltverbandes.