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London setzt voll auf Angriff

Voll auf Konfrontation: Premierminister Boris Johnson und Kanzlerin Angela Merkel im August in Berlin. Foto: Carstel Koall (Getty Images)
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Schon die Nachricht, die der konservative «Spectator», der einen guten Draht in die Downing Street hat, mitten in der Nacht zum Dienstag veröffentlichte, machte stutzig. Eine gute Quelle habe auf die harmlose Frage, wie denn die Brexit-Verhandlungen so liefen, überraschend ein langes Memo geschickt. Der erste Satz lautete: «Die Verhandlungen werden wahrscheinlich in dieser Woche enden.»

Das allein war jetzt noch kein Scoop; dass die Gespräche mit Brüssel nicht sonderlich gut liefen, war kein Geheimnis. Die Quelle, angeblich Johnsons Chef-Berater, ging aber ins Detail. Der irische Premier habe unerfüll­bare Bedingungen für einen Brexit-Deal gestellt. Und seit die Abgeordneten im Unterhaus mit dem «Benn Act», dem Gesetz zur Vermeidung eines Austritts ohne Vertrag, die Verhandlungsbasis der Regierung unterminiert hätten, zeige Dublin noch weniger Kompromissbereitschaft.

Und dann stand da, weil eine Einigung mit Angela Merkel, Emmanuel Macron und dem Rest der EU unwahrscheinlich sei, müsse man politisch voll auf Konfrontation gehen: Um die Brexit-Partei von Nigel Farage zu schlagen und die Stimmen aller Brexit-Fans zu bekommen, gehe die Konservative Partei mit folgender Losung in die nächsten Wahlen: «kein Aufschub mehr, Brexit jetzt und sofort».

Auch das war an sich nichts Neues. Dass die Tories auf Wahlen setzen, um ihre verlorene Mehrheit im Parlament wieder zu erlangen, ist bekannt. Unklar war, welchen Kollateralschaden sie dafür in Kauf nehmen wollen.

An einem kritischen Punkt

Der – nicht überprüfbare und von Downing-Insidern nur kurz zusammengefasste – Inhalt des Telefonats von Angela Merkel mit Boris Johnson am Dienstag­morgen war dann der nächste Schritt in die Eskalation. Offenbar nahm Johnson aus dem Gespräch den Eindruck mit, Deutschland werde dort auch in Zukunft nicht nachgeben, wo die EU-27 schon zwei Jahre lang nicht nachgegeben hatte. Als die Erregung gegen Mittag auf dem Höhepunkt war, weil sich mittlerweile in Europa herumgesprochen hatte, dass der Brexit-Deal endgültig auf der Kippe steht, schickte die Regierung ihren Sprecher in den Ring. Beim üblichen Briefing der Parlamentspresse mochte dieser zwar nicht sagen, von wem die Zusammenfassung des Telefonats stamme, er bestritt aber auch nicht deren Inhalt und die Konsequenzen, die sein Chef daraus zog. Die Gespräche, bestätigte er, seien an «einem kritischen Punkt».

Es dürfte kein Zufall sein, dass Johnson und sein Team den Krisenfall just an dem Tag einläuteten, an dem das Unterhaus bis einschliesslich kommenden Montag erneut in die Zwangspause geschickt wird. Den erneuten Aufschub wird, anders als der erste, der vom Supreme Court aufgehoben wurde, nicht angefochten; am kommenden Montag soll die Queen's Speech, die Regierungserklärung, statt­finden, danach sind üblicherweise mehrere Tage für eine Debatte über die Regierungserklärung reserviert. Das alles aber bedeutet: Das Parlament hat bis zum EU-Gipfel nächster Woche kaum Gelegenheit zur Gegenwehr, falls Johnson, wonach es derzeit aussieht, die Gespräche endgültig für sinnlos erklären sollte.

In Brüssel ist die Über­raschung grösser über den Zeitpunkt der Eskalation als über die Tatsache an sich. «Sie brauchten eine Vorstufe für das Drama», sagt ein EU-Diplomat. Dass sich die deutsche Kanzlerin so geäussert habe wie von britischer Seite dargestellt, hält man im Europaviertel für ausgeschlossen: «So redet Merkel nicht, sie ist die Meisterin der Mehrdeutigkeit.»

«Dummes Spiel»

Dass im Falle eines drohenden Scheiterns der Kampf um die Meinungshoheit und die Schuldzuweisungen schnell beginnen würde, war EU-Diplomaten klar. Gewohnt offen reagierte EU-Ratspräsident Donald Tusk, der Johnson auf Twitter aufforderte, «das dumme Spiel der Schuldzuweisungen» zu beenden.

Die Knackpunkte für einen Brexit-Deal sind gleich geblieben. Johnsons Vorschlag erfüllt insbesondere die Bedingungen des «Backstop» nicht und macht Zollkontrollen in Irland erforderlich – eine Gefahr für den Frieden. Der Krisenmodus in Brüssel und London ist aktiviert, die Lage könne sich stündlich ändern, heisst es. Klar ist der Zeitrahmen: Am 17. und 18. Oktober findet der EU-Gipfel statt. Zwei Tage vorher treffen sich die Europaminister, bis dahin hätte ein Deal in greifbare Nähe rücken müssen. Auf Prognosen lässt sich kein EU-Diplomat mehr ein: «Dieser Gipfel ist der unvorhersehbarste, den ich je erlebt habe», sagt ein Insider.

Etwas Positives ist schwer zu finden in diesen dramatischen Stunden, aber Funkstille herrscht noch nicht. Am Dienstagnachmittag setzte sich der Brexit-Gesandte David Frost mit EU-Chefunterhändler Michel Barnier im Gebäude der EU-Kommission an einen Tisch.

Fortschritte wurden zunächst nicht bekannt, darüber entscheidet ohnehin ein anderer.