So beeinflusst die Jugend unsere SpracheLies das mal, Bro!
Aus allen Menschen werden Brüder, endlich. Sogar aus Frauen. Die erstaunliche Karriere einer Grussformel, die aus dem Ghetto kommt.
Es war ein Tag, wie jeder andere. So schien es zumindest.
Durch die Wohnung hallten Geräusche von sich öffnenden Schubladen und von Schranktüren, die zugeschlagen werden. Es klang, wie es morgens immer klingt, wenn sich meine beiden Töchter für die Schule bereit machen. Ich sass am Küchentisch, mit der Zeitung und einer Tasse Kaffee.
«Hey Bro, hast du mein Handy gesehen?»
Meinte meine jüngere Tochter, sie ist 14 Jahre alt, tatsächlich mich? Bro? Aber als ich von der Zeitung aufsah, stand sie vor mir und erwartete offensichtlich eine Antwort. Ich sagte «ähhh». Dann nichts mehr. Und ich muss dabei dermassen verblüfft und ratlos ausgesehen haben, dass mich meine Tochter stehen liess, um im Flur ihren Turnbeutel zu durchwühlen.
Das war der Tag, an dem mich meine Tochter zum ersten Mal Bro nannte.
Surfer, Skater, Rapper. Aber ich?
Bro. Klar, die Abkürzung für Brother, Bruder. Die Linguistik nennt «Hey, Bro!» eine Begrüssungsinterjektion oder Anredeformel. Bro ist ein Importartikel aus den USA, ein Anglizismus. Bro klingt sehr männlich, es ist ein Wort, das nach Umkleidekabine riecht. Gleichzeitig schwingt Nähe mit, Fürsorge, ja Intimität. Bro macht den Freundeskreis zur Familie, zur Wahlverwandtschaft gewissermassen, und Bro tönt so viel besser als die deutsch-dumpfen Kumpel und Kollege.
Selbstverständlich hörte ich dieses Wort nicht zum ersten Mal aus dem Mund meiner Tochter – auch ich schaue Netflix, und ich höre mir auf Spotify die Hip-Hop-Playlists meiner älteren Tochter an. Bro, das ist Popkultur. Bros, das sind Surfer, Skater, Rapper. Aber ich?
Unsere Töchter und Söhne lernen die Bro-Formel auf Tiktok, womöglich auch auf dem Pausenplatz. In den vergangenen fünf Jahren schaffte es Bro wiederholt in die Top Ten der Jugendwörter des Jahres. Zwar drang der englische Bruder nie unter die ersten drei vor, aber seiner Street Credibility schadet das nicht. Begleiterin des Bro ist oft die Ghettofaust, im Englischen Fistbump genannt – also diejenige Grussgeste, bei der sich die entgegengestreckten Fäuste an den Schlagflächen berühren. Ebenfalls immer populärer: die Bro-Umarmung (Bro Hug). Po nach hinten getreckt, Oberkörper nach vorn gelehnt, mit der Hand ein- bis dreimal auf den Rücken des Gegenübers klopfen.
«Eine Invasion der Bros»
Die Bro-Anrede breitet sich im deutschsprachigen Sprachraum dermassen rasant auch ausserhalb von Jugend- und Subkultur aus, dass der österreichische «Standard» schreibt, «man könnte meinen, es sei eine Invasion der Bros im Gange». Dabei überwindet der Trend-Gruss sogar die Geschlechtergrenze – ja, auch Frauen sind mittlerweile Brothers.
Tatsächlich nennt meine jüngere Tochter nicht nur mich Bro, vielmehr auch ihre ältere Schwester. Daraus ergeben sich Sätze, die für Uneingeweihte ziemlich sonderbar klingen mögen – etwa: «Hey, Bro! Deine Krallen sind aber geil lackiert.»
Wenn Schwestern sprachlich zu Brüdern werden, nennt dies der Fachmann eine «Übergeneralisierung». Nils Bahlo, Dozent an der Universität Münster und Experte für Jugendsprache, sagt: «Der ursprüngliche semantische Gehalt von Bro verblasst und erweitert sich gleichzeitig.» Dieselbe inhaltliche Expansion lässt sich bei der Anredeform «Alter» feststellen, die mittlerweile von Bro in Sachen Popularität überholt worden ist. Zwar benützen Mädchen den jugendsprachlichen Ausdruck weniger häufig als Jungen, sie sprechen sich aber gegenseitig durchaus mit «Hey, Alter!» an; hingegen verwenden sie nie die weibliche Variante «Alte».
«Es findet quasi eine De-Genderisierung statt», sagt Sprachwissenschaftler Bahlo. Ein bemerkenswertes Phänomen in einer Zeit, da sich Erwachsene krampfhaft um eine sogenannt geschlechtergerechte Sprache bemühen. Allerdings, auch die Jugendlichen sind nicht so weit, dass sich Jungs mit Sista, Schwester, ansprechen lassen.
Aber was bedeutet es, wenn heutzutage Kinder ihre Eltern mit «Hey, Bro!» anreden?
«Jugendliche finden es absolut peinlich, wenn Erwachsene jugendlich klingen wollen.»
Soziolekte und damit auch die Jugendsprache definieren eine Gruppenzugehörigkeit, entsprechende Grussformeln ganz besonders. Natürlich gefällt es Vätern, wenn ihre Söhne und Töchter sie cool und lässig finden. Und womöglich gibt es tatsächlich Situationen, in denen ein generationenübergreifendes «Hey, Bro!» angemessen ist, auf dem Fussballplatz zum Beispiel: «Gib endlich den Ball ab, Bro!» Aber selbst die jugendlichsten Mamas und Papas werden zugeben müssen, dass eine Verbrüderung mit dem Nachwuchs Grenzen hat. Etwa wenn dieser sagt: «Hey, Bro, kümmere dich mal um meine Hausaufgaben!»
Was schliesslich die Verwendung von Jugendsprache durch Erwachsene anbelangt, gilt es gemäss Experte Nils Bahlo das Folgende zu bedenken: «Es gibt eine Studie, in der ganz klar herausgekommen ist, dass Jugendliche es absolut peinlich finden, wenn Erwachsene jugendlich klingen wollen.»
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