Kommentar zu Ferien-NationalismusLieber Paris als Brig
Gibt es etwas Schöneres als Ferien in der Schweiz? Ja: Ferien im Ausland.
Hört das denn nie auf? Seit Wochen wird das immer gleiche Loblied gesungen auf die «Ferien in der Schweiz». Alle stimmen ein in den harmonischen Refrain: vom Bundesrat über die Primarschulen bis zu Instagram.
Klar: Das Land ist schön. Klar: Die Tourismusregionen brauchen Geld. Klar: Solidarität in der Krise tut gut (und macht sich auch gut). Doch irgendwie hat man den Eindruck, dass sich hier einige etwas vormachen und in die Tasche lügen.
Die letzten Wochen mussten wir ja lange im eng bemessenen Homeoffice zubringen und konnten weder mit dem Zug durch Europa reisen noch nach Übersee fliegen. Der Zugang zu anderen Staaten war zeitweise versperrt. Das einzige Land, das wir in dieser wenig erfreulichen Zeit besichtigen konnten, war die Schweiz. Selten so viel gesehen! Und nun repetieren alle offiziellen und inoffiziellen Stellen mit überschwänglichem Pathos und alten Klischees: Das Gute liegt so nah. Wieso also in die Ferne schweifen?
Gefährliche Hotspots
Der Tourismus im eigenen Land entpuppt sich als neuer Nationalismus. Doch Vorsicht! Wer keinerlei Fernweh verspürt, könnte sich bei einer Wanderpause auch mal überlegen, ob die Hotspots des Schweizer Tourismus in diesen Ferientagen nicht overcrowded sein werden – was nicht unbedingt im Sinne der Prävention gegen das Coronavirus sein dürfte. Wer kürzlich etwa auf dem Creux du Van bei Neuchâtel unterwegs war, weiss, was es heisst, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen: Lauter keuchende Menschen am Hang!
Klimaverträgliches Reisen ins benachbarte Ausland lässt sich gut machen, bereitet Spass und erweitert nicht nur geografisch den Horizont.
Der Lärm der nationalen Werbetrommeln ist dermassen laut, dass andere Meinungen und Ansichten kaum Gehör finden: Klimaverträgliches Reisen ins benachbarte Ausland lässt sich gut machen, bereitet Spass und erweitert nicht nur geografisch den Horizont. Ein wenig von diesem Geist, der in einem solchen Aufbruch, mitunter gar Abenteuer steckt, sollten wir über die engen helvetischen Grenzen retten – einmal abgesehen davon, dass die individuelle Mobilität eine wesentliche Säule des westlichen Liberalismus ist.
«Wie froh bin ich, dass ich weg bin!», lautet der erste Satz in Goethes Briefroman «Die Leiden des jungen Werther». Klassiker kann man verehren. Oder kritisieren. Manchmal sollte man ihnen einfach auch folgen.
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