Leverkusen ist MeisterMit einem Traumtor führt Xhaka sein Team zur Krönung
Selten hat die Bundesliga einen besseren Meister gesehen. Leverkusen sagt mit dem 5:0 gegen Bremen Vizekusen ade und will finanziell an Muskeln zulegen, damit dieser Titel nicht einmalig bleibt.
«Wir sprechen im Mai», sagte Xabi Alonso als Trainer wochenlang. Vor Mai wollte er nicht darüber reden, wie gross die Wahrscheinlichkeit eines Titelgewinns mit Bayer Leverkusen ist.
Jetzt ist der 14. April 2024, und Alonso muss nicht mehr auf den nächsten Monat vertrösten. Seit 19:19 Uhr an diesem strahlend blauen Sonntag ist die Mannschaft von Bayer 04 Leverkusen am Ziel. Mit dem 5:0 gegen Werder Bremen in der Festhütte der Bayarena hat sie den letzten Schritt zur ersten Meisterschaft der Clubgeschichte gemacht, fünf Runden vor Schluss. Granit Xhaka garniert seine Saison mit seinem traumhaften Tor.
«Wir werden das schon gut feiern», hat Uwe Richrath unter der Woche versprochen. Richrath gehört zum fröhlichen Schlag der Rheinländer, vor allem ist er als Oberbürgermeister seiner Heimatstadt so etwas wie der höchste Fan von Verein und Mannschaft. Auch am Sonntag sitzt der 63-Jährige im Stadion, mit Bayer-Schal um den Hals, «aber ohne Tattoo». So weit soll die Verbundenheit dann doch nicht gehen.
Wer Richrath am Telefon hat, hört einen Mann, der voller Leidenschaft von Stadt und Verein berichtet: von der Symbiose zwischen dem Bayer-Werk und der Werkself, zwischen weltweit tätigem Pharma- und Chemie-Multi und Fussballern, die für die Internationalität eines sehr speziellen Bundesliga-Standorts stehen. «Der Verein ist Leverkusen, und Leverkusen ist der Verein», sagt Richrath. Vor seinem Rathaus hat er vier Bayer-Fahnen hochziehen lassen.
Die Romantiker rümpfen gern die Nase, wenn es um Bayer 04 geht. Die Tradition sprechen sie dem Club trotz einer bald 120-jährigen Geschichte ab. Tradition bedeutet für sie, alles mit eigenem Schweiss und Blut erschaffen zu haben, nicht mit der Hilfe eines Werks, das den Club zu 100 Prozent besitzt.
Bayer zelebriert den Fussball
In dieser Saison aber schaut die Fussballwelt voller Hochachtung auf das, was im Schatten des mächtigen Bayer-Kreuzes entstanden ist. Es ist nichts anderes als eine Mannschaft, die den Fussball zelebriert und damit die unangefochtene Attraktion der Liga ist. Bei aller Disziplin, Ordnung und Körperlichkeit, die Alonso als Grundlagen so wichtig sind, stehen immer der Ball, die Spielfreude und das Spektakel im Zentrum. 43 Spiele hat die Mannschaft bislang bestritten, 29 in der Bundesliga, 5 im Cup und 9 in der Europa League. 38 hat sie gewonnen und keines verloren, Torverhältnis 122:31. Das Triple lockt. Der Erfolg ist alles, nur kein Zufall.
Der Club hat die Liga vom Joch des FC Bayern München befreit, von der lähmenden Überlegenheit eines FCB, der zuletzt elfmal hintereinander den Titel geholt hatte. Er ist aus seiner Sicht endlich da, wo er etliche Male fast war. Fünfmal war er allein Vizemeister. Im Jahr 2000 verspielte er den Titel mit einer Niederlage in Unterhaching auf gar dramatische Art und Weise. Die «Bild»-Zeitung kreierte darauf den Begriff «Vizekusen», der bis zu diesem Sonntag an ihm kleben blieb.
Den ersten Schritt, um davon loszukommen, machte er in dem Moment, als er an einem Tiefpunkt angelangt war. Abgestürzt von Platz 3 der Vorsaison auf Platz 17, sah er sich zum Handeln gezwungen. Gerardo Seoane musste gehen, und am 5. Oktober 2022 kam Xabi Alonso, unerfahren als Trainer auf diesem Niveau, weil er zuvor nur den Nachwuchs von Real Madrid und die zweite Mannschaft von Real Sociedad in seiner Heimatstadt San Sebastián geführt hatte.
Granit Xhaka, der Garant
Die Mannschaft beendete die Saison als Sechster und Halbfinalist in der Europa League. Und im Sommer sind die Verstärkungen gekommen, die sich Alonso wünschte und die ihm Sportdirektor Simon Rolfes besorgte. Allen voran ist das Granit Xhaka. Nach einem einzigen Gespräch mit den Verantwortlichen entschied er sich schon zum Wechsel von London nach Leverkusen.
«Game changer», einen, der das Spiel verändert, nennt Robin Dutt den 31-Jährigen. Als «Garant» für den ersten Meistertitel der Geschichte sieht ihn Christoph Daum, ein anderer früherer Trainer von Bayer. Rudi Völler, als Funktionär lange das Gesicht des Vereins, bezeichnet Xhaka als «Schweizer Häuptling». Alonso schwärmt von seinem Regisseur, in dem er viel von sich erkennen kann, von seinem strategischen Denken, das ihn einst als Spieler in die Weltklasse beförderte.
Xhaka ist das Zentrum einer fein getunten Maschine. Hier ist er eine ganze Saison lang dieser Spieler, den die Nationalmannschaft in der gleichen Zeit oft vermisst hat. Natürlich bekommt er die Elogen mit, er sieht darin die Bestätigung für seine Arbeit. «Aber», hat er dieser Zeitung gesagt, «nur Komplimente zu bekommen und weniger zu machen, das bringt keinem etwas.»
Das Statement von Alonso
In der Vergangenheit sagten die Konkurrenten des FC Bayern gern, wenn er schwächeln würde, müssten sie bereit sein. Keiner war das, auch nicht Dortmund im Frühjahr 2023, als die Chance auf den Titel so gross war wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr. Dass der FC Bayern jetzt entthront ist, hat weniger mit eigenen Versäumnissen zu tun als mit Leverkusens Brillanz. Diesmal hat er nach 29 Runden sogar vier Punkte mehr gewonnen als im Vorjahr zum gleichen Zeitpunkt.
Der Baumeister dieser Leverkusener Mannschaft ist Alonso, mit 42 am Anfang seiner Karriere, aber alles andere als ein Anfänger. «Speziell macht ihn seine Persönlichkeit», erklärt Xhaka. «Wenn er dir nur schon ein Wort sagt, glaubst du ihm das sofort. Und zweitens: Er macht im Training schon fast so viele Kilometer wie wir Spieler. Sein Engagement, dieser Wille, immer besser zu werden, auch wenn er selbst kein Spieler mehr ist – das ist schon unglaublich. Wenn man ihn die ganze Woche erlebt, ist man nicht mehr überrascht, warum er, warum wir als Mannschaft so erfolgreich sind.»
In Leverkusen steht Alonso kurz vor der Heiligsprechung. Darüber hinaus ist er in diesem Frühjahr zum hoch begehrten Trainer geworden. Bayern? Liverpool? Er konnte wählen. Bayern hätte ihm «komplett jeden Wunsch erfüllt». Das ist zumindest die Vermutung von Ilja Kaenzig, der als ehemaliger Manager von Bayer und heutiger Geschäftsführer des VfL Bochum zu den Kennern der Bundesliga gehört.
Und Alonso? Er verkündet unaufgeregt, dass er in Leverkusen bleibt: «Ich bin hier am richtigen Ort.» Uwe Richrath, der Oberbürgermeister, nimmt genau diesen Satz dankbar auf, weil er darin eines erkennt: «Beste Werbung für uns», für ein Leverkusen, das er trotz aller Charmefreiheit und Unvergleichbarkeit mit München, Berlin oder Hamburg in schönsten Farben malt, als grün, toll und lebenswert. Aus ihm spricht in diesem Moment die Euphorie, die Leverkusen, eine Stadt mit 170’000 Einwohnern, zusammengesetzt aus vielen Dörfern, in diesen Tagen so sehr prägt. Dass die Fussballer lieber in den nahen Grossstädten Düsseldorf oder Köln wohnen, das weiss er wohl, «aber daran arbeiten wir». Sagt es und lacht.
Kaenzig gehört zu den vielen in der Liga, die Alonsos Verbleiben in Leverkusen nicht erwarteten. «Was ist denn, wenn im Sommer die besten Spieler weggekauft werden und es nächste Saison nur noch einen fünften Platz gibt?», sagt er, «dann besteht die Gefahr, dass der aktuelle Erfolg nur als Eintagsfliege gesehen wird und Alonsos Karriere einen Knick bekommt.»
Dass Alonso anders denkt, passt zu ihm. Respekt ist für ihn ein Schlüsselbegriff, der Respekt der Spieler untereinander und gegenüber den Mitarbeitern. Stil und Manieren sind ihm wichtig, an der Seitenlinie wie im Restaurant, wenn er seiner Frau in den Mantel hilft. Er weiss zu schätzen, was er in Leverkusen an Ruhe und Rückhalt hat. «Wir sind hier keine Protzer», ergänzt Richrath, «wir zeigen Demut.»
Der Entscheid Alonsons, seinen weiterlaufenden Vertrag zu respektieren, ist ein Zeichen an die Spieler, die ihm so sehr verbunden sind. Kaenzig jedenfalls erkennt darin «ein starkes Statement» für die Planungen und Ziele von Bayer 04 als Verein. «Durch den Titel wird das Kreuz breiter», sagt er, «Leverkusen hat jetzt die Legitimität, ein Spitzenclub zu sein.» Leverkusen will finanziell an Muskeln zulegen, um die aktuelle Mannschaft nicht nur zusammenzuhalten, sondern sie verstärken zu können. Dieser Meistertitel soll nicht einmalig bleiben. So umschreibt Kaenzig die Ambitionen, die er bei seinem ehemaligen Arbeitgeber ausmacht.
Und immer weitermachen
Der Club muss dabei Hindernisse überwinden. Er besitzt kein Stadion, das ihn weiterwachsen lässt. Nur 30’000 Zuschauer finden in seiner Bayarena Platz, das ist nicht einmal die Hälfte von Dortmund oder Bayern. Wirkliches Wachstum würde ihm nur ein Neubau versprechen. Was das Marketing angeht, taugt die Bezeichnung Werkself, so sehr er sie pflegt, auch nicht für internationale Ausstrahlung. Er muss sich andere Märkte suchen. Da bleibt in erster Linie der Transfermarkt.
In Leverkusen verstehen die Verantwortlichen dieses Handwerk. Das haben sie schon zu Zeiten des legendären Managers Reiner Calmund bewiesen, sie tun das in der Neuzeit mit Völler und besonders jetzt mit Rolfes. In Dortmund und München müssen sie derzeit in dieser Beziehung neidvoll zum Konkurrenten schauen.
«Junge, aber schon etablierte Spieler verpflichten, Spieler mit Hunger und Energie – darum geht es», sagt Kaenzig. Leverkusen hat allein mit Florian Wirtz einen wunderbaren Fussballer, der mit seinen drei Toren gegen Bremen nochmals gezeigt hat, wieso er eines Tages für weit über 100 Millionen Euro weiterziehen wird. Und Leverkusen plant, in Belgien Eupen und in der Niederlande De Graafschap zu übernehmen. Die Idee dahinter ist einfach: Transfers tätigen, Einnahmen generieren.
Oberbürgermeister Richrath ist noch ganz in der Gegenwart: «Das ist ein Moment für die Ewigkeit.» Und sollte Leverkusen am 22. Mai den Final der Europa League gewinnen und drei Tage später den Cupfinal gegen das zweitklassige Kaiserslautern, kann dieser Moment noch etwas ewiger werden. «Keep going and keep going», sagt Alonso jedenfalls. Immer beharrlich weitermachen.
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