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Zwischen Netflix und Instagram
Wie Bücherfans der Digitalisierung trotzen

Lesen ist ein generationenübergreifende Aktivität: Kinderbuch-Testleserin Annika Feuer, Zytglogge-Buchhandlung-Inhaberin Gabriela Bader, und Lesegruppegründerin Andrea Mason.
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In Kürze:
  • In der Deutschschweiz sinken die Buchverkäufe seit 2012 deutlich.
  • Soziale Medien und Streamingdienste gewinnen zunehmend an Einfluss im Alltagsleben.
  • Der gesellschaftliche Stand des Buches hat sich dadurch stark verändert.
  • Lesegruppen boomen trotzdem. Sie haben teils sehr unterschiedliche Konzepte.

Es klingt nach literarischem Sittenzerfall: 2012 wurden in der Deutschschweiz rund 20 Millionen Bücher verkauft. 2023 waren es gut vier Millionen Exemplare weniger. Zwar haben sich die Zahlen nach einem kurzen Corona-Hoch etwas stabilisiert, doch auch für das vergangene Jahr meldete der Schweizer Buchhandels- und Verlagsverband einen Verkaufsrückgang von 1,3 Prozent.

Gleichzeitig nehmen Social Media und Streamingdienste immer mehr Raum im Leben der Schweizerinnen und Schweiz ein. Eine Machtdemonstration der digitalen Unterhaltung: Täglich öffnen rund eine Million User hierzulande Netflix.

Was bedeutet das für das Kulturgut Buch? Verlassen Leseratten ein langsam sinkendes Schiff? Oder suchen sie nach Auswegen aus dem digitalen Labyrinth? Ein Streifzug durch Berns Welt der Bücher.

Hier sammelt Bern seine Bücher-Vergangenheit

Im Bücherbergwerk geschehen manchmal merkwürdige Dinge. Geschäftsführerin Roberta Winterberg zeigt eine 20er-Note, die mit einem Post-it in ein Buch geklebt ist. Auf diesem steht: «Das Buech het chli glitte – Entschuldigung! Anstatt dass ig dir es nöis choufe, machis itze so ...». Der Buchbesitzer schien diesen Geldsegen nicht bemerkt zu haben und gab es so im Bücherbergwerk ab.

Seit 2011 leitet Roberta Winterberg das Bücherbergwerk im Berner Monbijouxquartier. Über zwei Untergeschossetagen lagern hier rund 150’000 Bücher.

Das Bücherbergwerk im Monbijouquartier ist eines der grössten Buchantiquariate der Schweiz und gleichzeitig ein Arbeitsintegrationsprojekt für junge Erwachsene und Langzeitarbeitslose. Helfende Hände sind hier auch dringend gefragt. Schliesslich gilt es, das Sortiment von rund 150’000 Bücher nicht im Chaos versinken zu lassen.

Als Winterberg 2011 ihre Stelle antrat, waren es gar über eine halbe Million Bücher. Sie begann auszumisten. Viele Exemplare haben an gesellschaftlichem Nutzen verloren. «Bücher wie ‹Kochen mit der Mikrowelle› sind seit den 90er-Jahren nicht mehr gefragt», sagt Winterberg.

Ins Sortiment des Bücherbergwerks schaffen es nur Exemplare, die in gutem Zustand sind. Bücher aus Raucherhaushalten werden beispielsweise nicht angenommen.

Was übrig geblieben ist, ist eine Art kollektives Erinnerungsvermögen dieser Stadt. «Die 150’000 Bücher stammen alle von Bernerinnen und Bernern, die ihren Exemplaren ein zweites Leben geben wollten», sagt Winterberg.

Jede Woche landen 400 Kilo Bücher im Altpapier

Winterberg hat durch ihre Arbeit tiefe Einblicke in den zeitgenössischen Umgang mit dem Buch bekommen. Sie sagt: «Der Stellenwert des Buches hat sich sehr verändert.» Heute habe die hauseigene Büchersammlung an Bedeutung verloren. «Das zeigt sich auch dadurch, dass bei uns sehr viele Neuerscheinungen abgegeben werden.»

Auch bei Winterberg hat sich das Verlangen nach Bücherbesitz verändert. «Was auch in zehn Jahren noch problemlos bestellt werden kann, muss ich nicht mehr zu Hause haben.»

In der Generation ihrer Grosseltern sei das noch anders gewesen. «Um ein Buch zu kaufen, musste gespart werden. Es war auch ein Statussymbol.» Sie nennt das Schweizer Lexikon als Beispiel. «Damals kostete das mehrere Tausend Franken. Heute würden wir das hier nicht einmal mehr gratis loswerden.» 

Dementsprechend viele Neueingänge landen nach der Musterung im Altpapier. «Wir entsorgen wöchentlich rund 400 Kilo Bücher.»

Was schafft es ins Sortiment und was landet im Altpapier? Unsortierte Neueingänge im Bücherbergwerk.

Für Winterberg ist diese Trennung vom Haptischen auch ein Zeichen des Zeitgeistes. «Vielen wollen ja auch keine Blätter mehr zu Hause haben und digitalisieren alles.» Doch auch das Bücherbergwerk verzichtet nicht auf digitale Kanäle. Auf Instagram folgen ihm 2800 Menschen. Für die lokale Buchwelt ein stolzer Wert. Weder der Zytglogge-Verlag noch die Stauffacher-Buchhandlung kann die Zahl überbieten.

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Aber ist es nicht etwas paradox, ausgerechnet auf einer Plattform für Bücher zu werben, welche die nötige Aufmerksamkeitsspanne zerstört, um solche zu lesen? Winterberg verneint. «Es ist eine gute Möglichkeit, um Bücher sichtbarer zu machen – vor allem bei jungen Leuten.» Die Methode scheint zu funktionieren. «Kürzlich habe ich eine Ausgabe des ‹Berner Kochbuchs› gepostet. Es ging nicht lange, bis es eine junge Frau gekauft hat.»

Lesegruppen sind auf dem Vormarsch

Doch auch in der Offlinewelt tut sich etwas. Lesegruppen und andere Mitmachprojekte für Lesewillige sind auf dem Vormarsch. So zum Beispiel der Zürcher Verein Silent Reading Rave, der auch in Bern Veranstaltungen organisiert. Das Konzept ist simpel: Man trifft sich für zwei Stunden, um in Stille zusammen zu lesen.

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Für Vereinsgründer Fabian Weingartner waren die Events zunächst ein Mittel zur Selbsthilfe. «Während des Studiums wurde Lesen für mich zum Job. Die Freude daran habe ich verloren.» Durch die vorgegebenen Zeitfenster habe er diese wiedergefunden. «Die Events sind ein guter Wiedereinstieg in die Bücherwelt.»

Im Gegensatz zum traditionellen Lesezirkel ist der Austausch mit anderen beim Silent Reading Rave rein optional. «Es sind gute Anlässe für introvertierte Menschen, Verkaterte oder Leute, die ihre soziale Energie gerade aufgebraucht haben.» Gelesen wird allein, und trotzdem sei man Teil einer Community.

Auch die Lektüre ist frei wählbar. Doch kann das nicht auch den intellektuellen Gruppendruck fördern? Greifen manche dadurch nicht eher zu Kafka, obwohl sie lieber ein Lustiges Taschenbuch lesen würden? Weingartner winkt ab. «Bei uns werden auch viel Trash oder andere Sonderbarkeiten gelesen.» Er hat beispielsweise auch schon ein Buch über das Gleitschirmfliegen an einem Event gesichtet.

Die Silent Reading Raves helfen Weingartner auch dabei, ein hartnäckiges Klischee zu widerlegen. «Viele meinen, junge Leute läsen nicht mehr. Das nervt mich. Wir haben eher Mühe, Menschen über 50 zu erreichen.» Doch wie gross ist das Bedürfnis nach dem stillen Lesen im Kollektiv? Laut Weingartner kommen in Zürich bis zu 100 Menschen. «In Bern brauchen wir aber noch eine Weile, bis wir solche Zahlen erreichen.»

Expats finden durch Bücher neue Freunde

Es gibt aber auch Lesegruppen für Menschen mit höheren Ansprüchen an ein Wir-Erlebnis. Der Reading Circle Bern hat einen höchst integrativen Charakter. Denn der englischsprachige Lesezirkel eint Einheimische mit Expats, um jeden Monat ausgiebig über ein vorgegebenes Buch zu diskutieren.

Andrea Mason und Cécile Heim leiten einen englischsprachigen Buchzirkel in Bern, sitzen auf einer Bank mit Büchern. Foto von Beat Mathys.

Die internationale Ausrichtung basiert auf der Freundschaft der beiden Gründerinnen. Andrea Mason stammt aus dem englischen Chesterfield. Cécile Heim kommt aus Brienz. Zusammen haben sie englische Literatur studiert und nach dem Abschluss niemand mehr gehabt, um über Literatur zu reden.

«Wir haben unsere Familien und Freunde mit den Büchern genervt, die wir gerade gelesen haben», sagt Mason. Aus der Not wurde eine Tugend, und so entstand der Reading Circle Bern.

Leute zu finden, die jeden Monat ein Buch auf Englisch lesen, klingt im nicht allzu mondänen Bern nach einer Herkulesaufgabe. Doch weit gefehlt: «Wir waren überrascht, wie viele Leute von Anfang an gekommen sind», sagt Heim. Gegen die 15 Teilnehmende kommen inzwischen regelmässig.

Auch etwas anderes hat Heim verblüfft. «Wir gingen davon aus, dass eher Menschen über 60 auftauchen.» Der Altersdurchschnitt liegt nun aber zwischen 20 und 30 Jahren.

Mit ihren Treffen wollen die beiden Frauen eine Offlinealternative zum onlinedominierten Leben schaffen. «Das mag jetzt urkonservativ klingen, aber ich bin kein riesiger Fan der Digitalisierung, vor allem nicht von sozialen Medien», sagt Heim. Natürlich findet sie E-Mails und E-Banking praktisch und schaut auch gern Serien auf Netflix. Aber: «In einem Onlineforum könnte ich nicht gleichermassen über ein Buch diskutieren.»

Mason geht es ähnlich. Sie spricht aus Erfahrung. «Ich war einmal in einem Onlinebuchclub. Es ist deutlich schwieriger, so Diskussionen zu führen.»

Für schlechte Bücher hat sie keine Zeit

Obwohl das Angebot an literarischen Gruppenaktivitäten zunimmt, scheint das Buch innerhalb der Gesellschaft unsichtbarer zu werden. «Im öffentlichen Raum hat das Buch bestimmt an Bedeutung verloren», sagt Gabriela Bader, Inhaberin der Buchhandlung zum Zytglogge. «Immer wenn ich im Zug oder Bus jemand mit einem Buch sehe, dann hüpft mein Herz. Diese Erlebnisse werden aber seltener.»

Das könne zwar den Eindruck erwecken, dass niemand mehr lese. Dennoch ist Bader unbesorgt. «Wie oft wurde das Buch schon totgesagt? Es ist eine so simple und so geniale Erfindung. Die verschwindet nicht.»

Gabriela Bader in Buchhandlung zum Zytglogge, umgeben von Bücherregalen. Sie ist Co-Präsidentin von Bern liest ein Buch.

Über ausbleibende Kundschaft kann sich Bader nicht beklagen. «Wir verkaufen nach wie vor recht viele Bücher.» Dennoch bewandert sie immer wieder eine gewisse Ungläubigkeit, wenn ihre Ladentür aufgeht. «Es ist doch eigentlich ein Wunder, dass Leute zu uns kommen.»

Aber etwas vermisst sie: ein Gemeinschaftsgefühl unter Buchfans. Deshalb hat sie 2022 das Literaturfestival Bern liest ein Buch mitgegründet. Jedes Jahr gibt es zu einem Buch eine Woche lang verschiedene Anlässe. Dieses Jahr steht das neue Werk des Berner Autors Flurin Jecker an.

Doch wie viel liest eigentlich eine Buchhandlungsinhaberin? «Viel, aber trotzdem zu wenig.» Klingt beinahe so, als werde sie vom Gedanken geplagt, bis an ihr Lebensende alle Bücher lesen zu können, die sie sich vorgenommen hat. «Manchmal bedaure ich das tatsächlich.» Deshalb liest sie auch mit einem gewissen Pragmatismus. Nicht jedes Buch, das sie anfängt, beendet sie auch. «Das Leben ist zu kurz, um Bücher zu lesen, die einen nicht ansprechen.»

Literaturquiz: Was wissen Sie über die Welt der Bücher?

Bücher sind Annika wichtiger als Bildschirmzeit

Annika Feurer ist noch zu jung, um sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Die Viertklässlerin hat sich jedoch bereits einen Job in der Buchbranche geangelt. Die Neunjährige ist Testleserin im Chinderbuechlade in der unteren Altstadt. Jede Woche liest sie ein Buch und schreibt auf, was ihr an diesem gefallen hat. «Am liebsten habe ich Krimis. Fantasybücher gefallen mir hingegen nicht so.»

Die 9-jährige Annika Feurer ist Testleserin im Chinderbuechladen. Jede Woche liest die Viertklässlerin ein Buch.

Lesen ist ein fixer Bestandteil ihres Tagesablaufs. Bereits morgens im Bett liest sie eine Viertelstunde, aber auch, wenn sie nachmittags von der Schule nach Hause kommt. «Manchmal kommt mir dann das Abendessen in den Weg. Ich würde eigentlich lieber weiterlesen.»

Ist Annika damit in ihrem Umfeld eine Ausnahmeerscheinung? Nicht ganz. «Die Mädchen in unserer Klasse lesen eigentlich alle.» Bei den Buben sehe das aber anders aus.

Annikas Eltern gewähren ihr pro Woche eine Stunde frei verfügbare Bildschirmzeit. «Dann schaue ich zum Beispiel ‹Checker Tobi›.» Danach wechselt sie aber wieder zurück zum Buch. Dieses könnte einst auch Teil ihres Berufs werden. «Früher wollte ich Buchhändlerin werden. Jetzt eigentlich auch noch. Aber ich bin mir noch nicht so sicher.»